© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/20 / 07. August 2020

Notstand an allen Fronten – und keine Lösungen in Sicht
Belgien: Die Krise des Landes ist längst keine politische oder Gesundheitskrise mehr, sie ist existentiell
Mina Buts

Gespenstische Leere herrscht im nächtlichen Antwerpen. Die Cafés sind geschlossen, der Große Markt leergefegt, zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gilt in der ganzen Provinz Antwerpen eine Ausgangssperre. Von 23.00 Uhr bis 6.00 Uhr morgens darf niemand das Haus verlassen. 

Die Mundmaskenpflicht wurde auf alle öffentlichen Gebäude, auf Märkte, Jahrmärkte und Gaststätten ausgeweitet. Essen und Trinken ist nur noch in gesondert ausgewiesenen Zonen erlaubt, die Benutzung von Wasserpfeifen und das Teilen alkoholischer Getränke gleich ganz verboten. Mit diesen drastischen Maßnahmen wird versucht, dem Neuaufflackern des Corona-Virus’ Herr zu werden.

Mehr als 60 Prozent der Infizierten sind in Belgien jünger als 40 Jahre. Auffällig sind die Hotspots, an denen nun verstärkt Corona ermittelt wird. Das ist zum einen der soziale Brennpunkt auf der anderen Seite der Schelde, Linkeroever, bei dem in den siebziger Jahren Wohnblocks mit bis zu 25 Stockwerken hochgezogen wurden. 

Da ist das Antwerpener Diamantviertel, geprägt von orthodoxen Juden, die sich durch ihren Kinderreichtum auszeichnen. Da ist vor allem aber Borgerhout, ein quasi homogen marokkanisches Viertel. 25 Prozent aller belgischen Coronainfektionen sind dort festgestellt worden, die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Da sind aber auch die überwiegend türkisch besiedelten Gegenden Brüssels. Das Freitagsgebet in der Moschee wurde in etlichen Gemeinden bereits verboten, das am kommenden Freitag anstehende Opferfest darf – zumindest in Antwerpen – nur zu Hause gefeiert werden. 

Strukturen erschweren schnelles Handeln 

Die belgischen Staatstrukturen selbst erschweren, wie so oft, ein schnelles Handeln. So wurde der Beschluß des Antwerpener Bürgermeisters Bart de Wever (N-VA), sofort strengere Maßnahmen zur Eindämmung zu ergreifen, vom belgischen Gesundheitsrat kassiert, zwei Wochen später dann aber doch in Kraft gesetzt. 

Eine handlungsfähige belgische Regierung gibt es ohnehin nicht: Vor fast zwei Jahren gescheitert, ist es seit den Parlamentswahlen vom Mai 2019, von einer zeitlich befristeten Notregierung abgesehen, noch nicht gelungen, eine stabile Mehrheit zu finden. 

Vor drei Wochen wurde de Wever, der auch Parteivorsitzender der N-VA ist, vom König mit dem Auftrag ausgestattet, gemeinsam mit Paul Magnette von den wallonischen Sozialisten, erneut zu sondieren – eben jenem Magnette, der noch vor kurzem geschworen hatte, niemals mit der N-VA zu verhandeln. Vollmundig verkündet de Wever, dessen Partei unter dem Höhenflug des Vlaams Belang leidet, er könne bald Vollzug melden. Es muß ihm aber, will er eine Mehrheit für eine belgische Regierung generieren, gelingen, zumindest einen weiteren Bündnispartner neben den Christdemokraten zu finden. Die Liberalen sind eben abgesprungen, nun wird mit den in Flandern nicht gerade beliebten Grünen weiterverhandelt.

Sein Parteikollege Jan Jambon, der flämische Ministerpräsident, verkündet derweil zum flämischen Nationalfeiertag, „Schulter an Schulter zusammenzustehen, um unser Gemeinschaftsgefühl zu stärken und der flämischen Nation Form zu geben“. Die belgische Krise ist längst keine politische oder Gesundheitskrise mehr, sie ist existentiell.