© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/20 / 07. August 2020

Grandiose Fehleinschätzungen
Naive Bastelanleitungen: Jürgen Habermas’ abendländische Geschichte der Philosophie will zeigen, wie jede Religion im herrschaftsfreien Diskurs aufzulösen ist
Wolfgang Müller

Zwar nicht pünktlich zu seinem 90. Geburtstag im Juni, aber mit nur leichter Verspätung lag  im November 2019 Jürgen Habermas’ imposante „Geschichte der Philosophie“ vor. Daß die beiden Bände mit ihren 1.700 Seiten lediglich quantitativ beeindrucken, dürften nur böswilligste Kritiker behaupten. Zu evident ist die Qualität der ausschließlich aus den Quellen gewonnenen Interpretationen, aus denen sich der Grundstock für ein zweites „Großes Werklexikon der Philosophie“ kompilieren ließe, das jenes von Franco Volpi edierte, 1999 als Ergebnis „alexandrinischen Eifers“ vorgelegte, für erste Zugriffe auf rund 3.000 Jahre Wahrheitssuche nach wie vor unentbehrliche Handbuch an Tiefgang noch überträfe.

Was sich schlicht daraus erklärt, daß Habermas, als er dieses Mammutunternehmen zu Beginn seines neunten Lebensjahrzehnts startete, realistischerweise glaubte, nicht mehr über die Zeit zu verfügen, um sich durch Bibliotheken der Forschungsliteratur zu quälen. Daher blieb er bei der Deutung des klassischen Kanons erfrischend autark, was mitunter originelle und stringente Exegesen zeitigte.

Wer hätte wohl gedacht, daß sich der hier eingangs wie eh und je zum Atheismus bekennende Autor geradezu katholisch subtil Augustinus, Thomas von Aquin oder Duns Scotus zu traktieren oder den protestantischen Existentialisten Sören Kierkegaard mit höchstem Respekt als „letzten Glaubensdenker“ zu würdigen weiß? Natürlich ist sich der gewaltige Stoffmengen verarbeitende Polyhistor seiner Grenzen bewußt. Es sei „eigentlich unseriös“ sich über die Weltauffassungen Buddhas, Laotses und Konfuzius’ zu verbreiten, die ihm mangels Sprachkenntnis zwangsläufig nur aus zweiter Hand zugänglich waren. Trotzdem wollte er sich weder bei den indischen und chinesischen Weisen, auf die sich seine Inspektion außereuropäischer Philosophien und Religionen letztlich beschränkt, im Gestrüpp der Sekundärliteratur verlieren. So entkommt der alte Habermas dem von der Phalanx jüngerer Kollegen hingebungsvoll kultivierten, zwischen Bio- und Migrationsethik plazierten, politisch gefügigen Dienstleisterbetrieb, mit dem sich die bundesdeutsche Philosophenzunft als Bildungsinstanz längst selbst ausgeschaltet hat. Habermas hält hingegen traditionell daran fest, daß es der Philosophie um „das Ganze“ gehen müsse, wenn sie zur „rationalen Klärung unseres Selbst- und Weltverständnisses“ beitragen und „lebensweltliche Orientierung“ vermitteln wolle. Andernfalls, so lautet die Befürchtung, sei fraglich, ob die „Philosophie, wie wir sie kennen“, noch eine Zukunft habe.

Um ihr eine solche offenzuhalten, beansprucht auch dieses ungefüge Werk, in seinem nirgends angekränkelten Fortschrittsoptimismus, die Menschen durch das Medium der Philosophiegeschichte im „autonomen Gebrauch ihrer Vernunft“ zu stärken, die „praktische Gestaltung des Daseins“ zu beeinflussen sowie die „Erzeugung und Stabilisierung gesellschaftlicher Solidarität“ fördern zu können. Unterm Strich ist es das vertraute „unvollendete Projekt der Moderne“, an dem der laut Spiegel „denkmächtigste Philosoph der Bundesrepublik“ seit sechs Jahrzehnten herumbastelt.

Wie aus den diversen, Philosophiehistorie simulierenden Arbeiten des seit den 1990ern schwer in Mode gekommenen Ernst Cassirer (1874–1945; „ein Professor für Philosophie, kein Philosoph“, Leo Strauss), sei es zur Geschichte des Erkenntnisproblems, sei es zur Philosophie der Renaissance oder der Aufklärung, stets sein neukantianischer, banausisch ahistorischer Kosmopolitismus und Vernunftuniversalismus herauslugt, so ist es bei Habermas der „rote Faden“ vernünftig angeleiteter „Selbstbestimmung der Menschheit“, auf die alle Anstrengungen zumindest okzidentaler, „westlicher“ Philosophie zulaufen. 

Unter diesen Auspizien kommt das sympathisch anmutende Versprechen, „aufs Ganze“ gehen zu wollen, natürlich einer Hochstapelei gleich. Denn für Philosophien, die sich nicht in die Meistererzählung vom unaufhaltsamen „Prozeß der Aufklärung“ einpassen lassen, gilt das Metzgerei-Schildchen „Wir müssen draußen bleiben“. Was nach „Gegen-Aufklärung“ im Sinne von Kritik der Aufklärung ausschaut, sortiert Habermas, an dem sein Lehrer Max Horkheimer früh schon, „bei aller Gescheitheit“, die Dogmatikern eigene Vorliebe für „Scheuklappen“ bemerkte, kurzerhand aus. Er verlängert damit nach rückwärts, was in der Philosophiehistorie des Marxisten Georg Lukács erst ab 1789 begründet wird, die Kontinuität des „Irrationalismus“, die auf dem dafür „vorzugsweise geeigneten deutschen Boden“ gesetzmäßig „von Hegel zu Hitler“, zur „Zerstörung der Vernunft“ und zum nationalsozialistischen Völkermord geführt habe.

So fehlen dann, mit Ausnahme von Kierkegaard, bei Habermas alle von Lukács als „Dunkelmänner“ identifizierten Denker, allen voran Arthur Schopenhauer, dem er nicht einmal einen Fußnotenauftritt gönnt. Wie überhaupt in strengster Selektion das 20. Jahrhundert explizit ausgespart bleibt, und das 19. Jahrhundert rigoros auf die Linie Kant – Hegel – Marx reduziert wird. Die auffälligste Lücke in der Zeit vor 1789 entsteht durch den Verzicht, mit Johann Georg Hamann (1730–1788) die Klingen zu kreuzen. Das ist konsequent, denn der nur beiläufig erwähnte „Magus in Norden“ und „Querdenker der Aufklärung“, Hausheiliger widerborstiger Geister wie Carl Schmitt, Ernst Jünger, Nicolás Gómez Dávila und Botho Strauß, figuriert bei Ideenhistorikern wie Isaiah Berlin als „Vater des neueren Irrationalismus“. Ein Bannfluch, der den schärfsten Kritiker der „Kritik der reinen Vernunft“ (1781) trifft, der Immanuel Kant prompt in beider Vaterstadt Königsberg quasi an der Haustür opponierte. Hamann bewies als erster, 160 Jahre vor Horkheimer und Adorno, ein feines Gespür für die „Dialektik der Aufklärung“, die unter der Parole „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ dem „Absolutismus der Vernunft“ und der in ihrem Namen ausgeübten tendenziell totalitären Herrschaft neuer Vormünder den Weg bahnte.

Habermas würde gegen den Vorwurf, nichts Ganzes, sondern in seinem „analytischen Durchgang“ nur bestenfalls Halbes geliefert und eine auf die Entwicklung der „Rationalität“, den „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“ (Hegel) ungebührlich verengte Philosophiegeschichte geschrieben zu haben, darauf pochen, daß seine „Genealogie des nachmetaphysischen Denkens“ diesseits einzelner Exponenten wie Hamann oder Schopenhauer doch geradezu den Inbegriff des Irrationalen in den Mittelpunkt ihrer Darstellung rückt – die Religion. Das ist unbestreitbar, aber das geschieht einzig zu dem Zweck, aus der Geistesgeschichte der Wechselbeziehung zwischen Philosophie und Theologie abzuleiten, was sich aus dem Erbe der Religion in die „säkularisierte Welt“ hinüberretten läßt, damit Religion noch einen „funktionalen Beitrag zur gesellschaftlichen Integration“ leisten könne.

Vorgesehen war dieser Bedeutungsgewinn des Religiösen in der „progressiven“ 68er-Geschichtsideologie des jüngeren Habermas ursprünglich nicht. „Ich lege Wert darauf, als Marxist zu gelten“, also die Religion als Opium für das Volk auf den Aussterbeetat zu setzen, tönte er 1979, im Jahr der Machtergreifung von Ayatollah Khomeini, als sich die Rückkehr des Machtfaktors Religion in die Weltgeschichte unübersehbar abzeichnete. Das fast parallel dazu von linksgrünen Sozialingenieuren begonnene multikulturelle, im Kapitalinteresse liegende Großexperiment eines Bevölkerungsaustausches, fand in Habermas, einem Prediger der „postnationalen Konstellation“ mit „privilegierten Einflußchancen“ (Oskar Negt), einen der rührigsten Propagandisten. Die forcierte Zuwanderung muslimischer Massen konfrontierte die Habermas-Linke jedoch mit dem „Problem der Religion“, dessen rückstandlose Lösung man in der Naherwartung des „säkularen Zeitalters“ fest eingeplant hatte.

Auf dieses unverhoffte Bocken des Weltgeistes auf der vermeintlichen Zielgeraden reagierte der virtuos mit dem Präfix „post“ jonglierende Post-Bote unter den bundesdeutschen Philosophen flugs mit der Ausrufung des „postsäkularen Zeitalters“. Wenn „die“ Religion, wie sich Habermas, vom rosa Elefanten des Islam im europäischen Haus flott abstrahierend, ausdrückt, „jetzt halt da“ ist und aufgrund ihrer demographisch basierten „Vitalität“ nicht verschwinden will, ist ihr relevantes Orientierungs- und Sinnpotential beim nunmehr interkulturellen „Hausbau der Vernunft“ (Kant) zu verwenden. Darauf läuft sein mutmaßlich letztes Opus magnum also hinaus: auf den Zuversicht versprühenden Nachweis, daß in Europa, nach Jahrhunderten religiöser Kämpfe und mühseliger „Lernprozesse“, dank des „gemeinsamen Vernunftpotentials“ eine auch sozial tragfähige Synthese zwischen christlich-jüdischer Überlieferung und säkularer Aufklärung geglückt sei. Einer solche „rettende Dekonstruktion religiöser Überzeugungen“, deren Anpassung an universal gültige Rationalitätsstandards und der Verflüssigung des Sakralen im herrschaftsfreien Diskurs, so lautet die einem frommen Wunsch gleichende Lehre aus Habermas’ Lesart europäischer „Wandlungen der Weltanschauung“ (Karl Joël, 1928), werde sich der Islam wohl auch gern gefallen lassen. Nichts scheine dagegen zu sprechen, daß diese Religion ihre „Wahrheitsgehalte“ als Ressource des „Fortschritts in Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit“ anzapfen und rationalistisch nivellieren lasse.

Wenn „ein deutscher Intellektueller mit politischem Urteilsvermögen“, wie ihn Oskar Negt rühmt, ungeachtet der schier endlosen Kette seiner vom deutschen Restbürgertum voraussichtlich bis zu seinem katastrophalen Untergang in Treue fest geteilten grandiosen Fehleinschätzungen, solche kühne Prognose stellt, dann beruht das ja wohl auf „lebensweltlicher“ Erfahrung. Zumindest in seinem Tuskulum im Starnberger Millionärswinkel, das bezeugt dem einkommensstarken Pensionär ein Blick aus dem Fenster, hätten die Folgen der „weltweiten Migration und der sich über ihre Ursprungsregionen ausbreitenden Weltreligionen“ (man beachte den Plural, wo sich doch nur eine Weltregion ausbreitet) nicht das „Zivilisationsprofil der europäischen Einwanderungsgesellschaften gesprengt“. Trotz der hier und da leider „phobisch“ darauf reagierenden, unaufgeklärten Ureinwohner.

Jürgen Habermas: Auch eine Geschichte der Philosophie.

Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen.

Band 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen. Suhrkamp, Berlin 2019, gebunden, 1.752 Seiten, 98 Euro





Jürgen Habermas

Der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas, am 18. Juni 1929 in Düsseldorf geboren, gilt als „der meistzitierte deutsche Philosoph der Gegenwart, und zwar mit Abstand“, wie der Journalist und ebenfalls promovierte Philosoph Michael Funken in dem von ihm 2008 herausgegebenen Band „Über Habermas. Gespräche mit Zeitgenossen“ schreibt. 1954 promoviert, Forschungsassistent am Frankfurter Institut für Sozialforschung bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, 1961 habilitiert, lehrte er in Heidelberg und bis zu seiner Emeritierung 1994 in Frankfurt am Main. Als sein Hauptwerk gilt die 1981 erschienene zweibändige „Theorie des kommunikativen Handelns“. Danach kann der Vernunft Geltung verschafft werden, wenn Kommunikationsprozesse als „herrschaftsfreier Diskurs“ angelegt sind. 1986 befeuerte Habermas mit seiner scharfen Kritik an Ernst Nolte in einem Aufsatz in der Zeit den sogenannten Historikerstreit. (tha)