© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/20 / 07. August 2020

Gegen die Zerstörung der Nation
Eine französische Petition fordert den Schutz der Geschichte schlechthin
Karlheinz Weißmann

Das erste, was man auf der Netzseite der französischen Zeitschrift Valeurs actuelles sieht, ist ein Foto der mit roter Farbe beschmierten Statue Colberts vor dem Parlamentsgebäude in Paris. Gewidmet ist das Monument dem „großen Colbert“, Jean-Baptiste, Minister des „Sonnenkönigs“ Ludwigs XIV., „Erfinder“ des Merkantilismus und nie um eine Idee verlegen, wenn es darum ging, das Staatssäckel mit Steuern zu füllen. Die Attacke auf sein Denkmal hat mit alldem aber nichts zu tun. Vielmehr wurde es geschändet, weil Colbert neuerdings als Repräsentant der „Negrophobie“ gilt, schließlich war er es, der den „Code noir“ festlegte, der die Bestimmungen für den französischen Sklavenhandel enthielt.

Der Text, der auf der betreffenden Seite folgt, stammt von Alain Finkielkraut, einem der einflußreichsten Intellektuellen Frankreichs. Er hält sich nicht damit auf, den Vandalismus zu kritisieren. Ihm geht es um die dahinterstehende Ideologie, die in Menschen die Überzeugung nährt, daß ihre Zerstörungswut berechtigt sei. Nach Finkielkrauts Meinung muß man vor allem auf jene Weltanschauungen hinweisen, die gerade in Mode sind: Antirassismus, Black Studies, Postkolonialismus etc.

Wer dieser Einschätzung folgt, wird sehr rasch sehen, daß es den Militanten kaum genügen wird, die Heroen des Ancien régime abzuräumen. Als nächster könnte zum Beispiel ein Jules Ferry auf der Liste der Unliebsamen landen, zwar ein Mann der Linken – unvergessen als Bildungsreformer der Dritten Republik – aber eben auch ein Befürworter der Kolonialherrschaft. Zudem erscheint Finkielkraut die Einseitigkeit der Urteile verdächtig. So stehe etwa dem Kurzschluß von Sklaverei auf Rassismus das Faktum entgegen, daß Schwarze seit je von Schwarzen versklavt wurden (und bis heute versklavt werden, möchte man hinzufügen), daß schwarze Sklaven meistens von schwarzen Sklavenhändlern an arabische oder weiße geliefert wurden und der Anteil der muslimischen Welt am „Sklavismus“ den der westlichen deutlich überwog (und bis heute überwiegt, möchte man hinzufügen). Was letztere von ersterer – und allen übrigen – unterscheide, so Finkielkraut weiter, sei allerdings, daß sie ihre Fehler eingestanden und Abhilfe geschaffen habe. Nur in Europa und den von Europäern beherrschten Gebieten wurde die Sklaverei beseitigt.

Antirassismus als Werkzeug im politischen Kampf

Ist diese Stoßrichtung der Argumentation Finkielkrauts schon ungewöhnlich, muß man das erst recht im Hinblick auf seine Schlußfolgerungen feststellen. Denn für ihn ist das, was im Zusammenhang mit der „Black Lives Matter“-Bewegung auftritt und sich als Antirassismus gibt, vor allem Deckung für einen Rassismus, der gegen die Weißen und alles gerichtet ist, was zu den Errungenschaften der westlichen Zivilisation gehört. Man trete zwar im Namen hehrer Ideale auf, aber faktisch handele man aus Verblendung oder wolle sich Vorteile in der politischen Auseinandersetzung verschaffen. Sollten die Antirassisten damit Erfolg haben, werde das letztlich zur Zerstörung der Nation als solcher führen. Finkielkraut zitiert Ernest Renan ausnahmsweise nicht mit dem Satz, daß die Nation ein „tägliches Plebiszit“ sei, sondern mit der Feststellung, daß zur Nation immer ein Erbe „der Ruhmestaten und des Bedauerns“ gehöre. Nur wer dieses Erbe im Ganzen anzunehmen willens sei, könne ihr zugehören.

Ohne Zweifel ist diese entschiedene Bezugnahme auf die Nation typisch französisch, aber im Fall Finkielkrauts doch besonders aufschlußreich. 1949 in Paris geboren, polnisch-jüdischer Herkunft (sein Vater gehörte zu den Überlebenden von Auschwitz), ging er wie die meisten Gebildeten seiner Generation auf die äußerste Linke über, war zuerst Maoist, dann Anarchist, begriff allerdings schneller als die meisten die totalitäre Tendenz. Wegen der daraus resultierenden Kritik hat man Finkielkraut oft den „Neuen Philosophen“ um Bernard-Henri Lévy zugerechnet. Von denen schied ihn allerdings früh eine dezidiert patriotische Sicht der Dinge. Finkielkraut kritisierte seit den 1980er Jahren scharf die Masseneinwanderung und die Illusionen des Multikulturalismus, vor allem im Hinblick auf die Möglichkeit, Millionen von Muslimen einzugliedern. Aufsehen erregte 2013 seine Äußerung, daß der Front National die einzige Partei sei, die die Verunsicherung der Franzosen ernstnehme.

Jede Bindung ist den „Unkörperlichen“ verdächtig

Angesichts seiner politischen Stellungnahmen ist Finkielkraut immer wieder als „Fascho“, als „Reaktionär“ oder als „Konservativer“ bezeichnet worden. Das letzte Etikett hat er willig akzeptiert und schon 1999 in seinem Buch „L’Ingratitude“ (deutsch: Die Undankbarkeit – Gedanken über unsere Zeit, 2001) seine Sicht der Dinge umrissen. Für ihn ist die Gegenwart insofern von „Undankbarkeit“ gekennzeichnet, als die Heutigen denjenigen, die die Voraussetzungen ihrer Lebensweise schufen, keinen Respekt zollen. Sie haben sich eine arrogante Attitüde angewöhnt, die nicht nur von Geschichtsvergessenheit zeugt, sondern auch von moralischer Selbstüberschätzung einerseits, Selbsthaß andererseits. Der Multikulturalismus sei insofern weder Utopie noch subversives Konzept idealistischer Weltverbesserer. Vielmehr handele es sich um eine Herrschaftsideologie, die von der Intelligenzija im Bündnis mit den „Hyperklassen“, die sich nur auf den Flughäfen zu Hause fühlten, installiert wurde. Diese „Athleten des Unkörperlichen“, die jede konkrete Bindung als verdächtig, im Grunde als „unrein“ betrachteten, predigten zwar Toleranz, tolerierten aber nur sich selbst und hätten in den kleinen Leuten, insbesondere den Weißen, ihren eigentlichen Feind gefunden.

Der unmittelbare Anlaß für das Erscheinen von „L’Ingratitude“ waren die Maßnahmen zum Umbau der Unterrichtsinhalte an den französischen Schulen. Die Große Erzählung, mit der bis dahin dem künftigen Bürger die Vergangenheit der Nation nahegebracht werden sollte, um seine Identität zu stärken, sollte ersetzt werden durch eine andere, in der diese Nation als eine Art Verbrecherbande erschien, deren Traditionen keinen Vorrang gegenüber anderen, vor allem denen der Einwanderer aus den früheren Kolonialgebieten Frankreichs, beanspruchen durfte. Im Grunde kam den souchistes (von französisch „souche“ für Ursprung) nicht einmal ein Anspruch auf Gleichbehandlung zu.

Die seitdem abgelaufene Entwicklung hat die Befürchtungen Finkielkrauts nicht nur bestätigt, sondern übertroffen. Das, was sich jetzt unter der Deckung von „Black Lives Matter“ vollzieht, wertet er als weiteren Akt des Kulturkrieges, der auf die Zerstörung Frankreichs und Europas zielt. Deshalb hat Finkielkraut noch einmal seine Stimme erhoben. Mit Hilfe von Valeurs actuelles wurde eine Unterschriftenaktion – „Touche pas à mon histoire!“ – „Hände weg von meiner Geschichte!“ – ins Leben gerufen, der sich in wenigen Tagen mehr als sechzigtausend Personen angeschlossen haben, darunter Vertreter der klugen Linken, der ehemalige Premier Manuel Valls und der ehemalige Minister Jean-Pierre Chevènement, wie der klugen Rechten, vor allem die Philosophen Pascal Bruckner und Bérénice Levet.