© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/20 / 07. August 2020

Blick in die Medien
ÖRR gibt Prozeßmaterial frei
Tobias Dahlbrügge

Informationen aus einem laufenden Ermittlungsverfahren zu veröffentlichen, ist aus guten Gründen nicht legal und wird auch allgemein als nicht legitim angesehen. Doch seit rechtsstaatliche Prinzipien immer öfter von ideologischen übertrumpft werden, scheint auch diese Regel außer Kraft. Das Magazin „STRG_F“ veröffentlichte Ausschnitte aus einem polizeilichen Vernehmungsvideo mit dem mutmaßlichen Lübcke-Attentäter Stephan Ernst auf der Video-Plattform Youtube. „STRG_F“ gehört zum funk-Netzwerk, dem Online-Angebot von ARD und ZDF für „junge Menschen“.

Auch die Familie Lübcke kritisierte die Veröffentlichung des Videos.

Der fast halbstündige Film zeigt moderierte Ausschnitte eines Verhörs, in dem der wegen Mordes Angeklagte ein Geständnis ablegt und Details des Tathergangs schildert. Innerhalb eines Tages klickten über 300.000 Internetnutzer das Video an. Eine Gerichtssprecherin sagte, wegen der hohen Qualität gehe man davon aus, daß das Material nicht verbotenerweise im Gerichtssaal abgefilmt worden, sondern Originalmaterial sei. Die funk-Redaktion äußerte lediglich, daß ihr die Aufnahmen „zugespielt“ worden seien. 

Die 30 Minuten sind ein Zusammenschnitt aus rund drei Stunden Vernehmungsvideos, die vor dem Frankfurter Oberlandesgericht zur Beweisaufnahme von LKA-Beamten vorgeführt wurden. Der funk-Beitrag ist dynamisch gerafft und mit Kommentaren versehen – es fehlt nur noch dramatische Musik. 

Sowohl die Familie Lübcke als auch der Deutsche Strafverteidiger-Verband kritisierten die Veröffentlichung. Die Praxis sei zwar möglicherweise nicht strafbar, weil das Material bereits in der Hauptverhandlung vorgeführt wurde, könne aber immer noch Zeugen beeinflussen und verletze die Persönlichkeitsrechte des Angeklagten. 

Der Sprecher der Nebenkläger-Familie nannte die Vorgänge „befremdlich“ und „schmerzhaft“. Die zuständige Sendeanstalt NDR rechtfertigte das Vorgehen mit einem „hohen Berichterstattungsinteresse“.