© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/20 / 14. August 2020

„Das hat schon etwas Totalitäres“
Eine „Herrschaft der Moral“ untergräbt unseren Rechtsstaat und zerstört die demokratische Debatte, warnt Ex-Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen
Moritz Schwarz

Herr Dr. Maaßen, Boris Palmer hat vor einer „Verbotswelt“ in Deutschland gewarnt, in der beim kleinsten Fehler „moralische Verdammnis“ drohe. Denn das, so der Tübinger Oberbürgermeister, „zerstöre (unsere) liberale Demokratie“. Hat er recht?

Hans-Georg Maaßen: Ich bin ja Jurist  und das aus Leidenschaft. Und deshalb erschreckt es mich, ihm teilweise recht geben zu müssen. Ich sehe mit großer Sorge, daß der Rechtsstaat – also die Herrschaft des Rechts – durch eine Herrschaft der Moral mehr und mehr untergraben wird. 

Bekannt ist Bärbel Bohleys enttäuschtes Diktum: „Wir wollten Gerechtigkeit, aber bekamen den Rechtsstaat.“ Ist Moral also nicht das bessere, ethisch höhere Gut? 

Maaßen: Nein. Zwar stellt das Recht in der Tat lediglich ein moralisches Minimum dar. Andererseits aber ist eben das die Vorbedingung der Freiheit. 

Freiheit ist also der Raum, der entsteht, wenn Moral minimiert ist? 

Maaßen: Ja, denn Recht regelt zum einen, wo die Grenze dessen verläuft, auf das sich alle als Mindestmaßstab einigen. Und es garantiert so zum anderen, daß man jenseits dessen tun kann, was man will, ohne Strafe fürchten zu müssen. 

Was bedeutet es dann für eine freiheitliche Gesellschaft, wenn die Herrschaft der Moral, die des Rechts unterläuft?

Maaßen: Es hebelt die Freiheitlichkeit aus. Erstens indem ein moralisches Verbotssystem das rechtliche überlagert und so die eigentlich verbürgte Freiheit immer weiter einengt. Zweitens indem die Grenze nicht mehr eindeutig definiert ist, und so unklar wird, was noch „erlaubt“ und was schon „verboten“ ist. 

Zum Beispiel? 

Maaßen: Der Begriff Mohr, der völlig unbescholten ist. Afrikanischen Gästen in Berlin etwa müßen Sie erst mal erklären, warum die Berliner Mohrenstraße ein Problem sein soll. Aber infolge der aktuellen Diskussion über Rassismus meiden die Leute das Wort Mohr, weil sie nicht als Rassisten abgestempelt werden wollen. Die Furcht, eventuell etwas „Falsches“ zu sagen und dafür sozial bestraft zu werden, führt also dazu, daß die Bürger sogar mehr Zurückhaltung üben, als die Moral zunächst fordert. Die Spirale wird so enger und enger. 

Vom Wort Mohr hängt doch nicht unsere Freiheit ab.

Maaßen: Sie hatten nach einem Beispiel gefragt. Dann nehmen Sie den Fall einer Gastwirtin aus NRW, die unlängst eine AfD-Gruppe zu Gast hatte. Danach stellte sie ein Selbstbezichtigungsvideo ins Netz, in dem sie unter Tränen beteuerte, nicht gewußt zu haben, daß sich hinter der Anmeldung AfDler verborgen hatten.

Wenn sie das nicht wußte, ist das doch kein Beispiel für vorauseilende Selbstzensur. 

Maaßen: Doch, denn hätte sie es gewußt, hätte sie freiwillig die Grenze enger gezogen, aus Angst sie zu verletzen. Und dann diese öffentliche Selbstanklage und unter Tränen Abbitte zu leisten – das hat schon etwas Totalitäres. 

Verharmlost es nicht echte Diktaturen, von „totalitär“ zu sprechen, solange nur soziale, nicht aber staatliche Repression droht?  

Maaßen: Nein, denn manchmal ist der öffentliche Pranger sogar weit schlimmer für einen Menschen als etwa ein Bußgeld oder Strafbefehl. Zum einen, weil die materiellen Folgen verheerend sein können. Etwa wenn jemand daraufhin vom Arbeitgeber entlassen wird oder als Selbständiger seine Kunden verliert. Zum anderen, wenn die Folgen psychosozial sind, wenn man also – selbst falls man seinen Arbeitsplatz nicht verliert – zwischenmenschlich isoliert wird. Der Mensch ist bekanntlich ein soziales Wesen, wodurch Ausgrenzung – gleich ob andere den Betreffenden freiwillig meiden oder aus Angst, sonst selbst ausgegrenzt zu werden – eine äußerst empfindliche Strafe ist, die sogar zermürbender sein kann als eine rechtliche. Diesbezüglich spreche ich auch aus meiner Erfahrung als ehemaliger Nachrichtendienstchef: Nicht umsonst ist soziale Isolation typisches Merkmal totalitärer Systeme. Dabei ist sie nicht nur sehr wirksam, sondern auch subtil – wird also vor allem eingesetzt, wenn nach außen der Anschein der Freiheit gewahrt werden soll. 

Aber hat nicht jede Gesellschaft oberhalb rechtlicher Normen zusätzliche, strengere Moralgesetze, die sozial sanktioniert sind?

Maaßen: Hier ist zu unterscheiden: Sicherlich hat jede Sub-Gesellschaft wie Familie, Verein oder Firma ihre eigenen Sozialnormen. Aber die Sanktionen bei Verstößen sind regelmäßig nicht grundrechtsrelevant. Zum Beispiel wenn man wegen eines bestimmten Verhaltens nicht mehr zum Geburtstag eingeladen wird oder wenn sich Freunde von jemandem distanzieren. Man hat keinen Anspruch darauf, eingeladen zu werden, und man selbst hat auch die Möglichkeit, sich andere Freunde zu suchen. Etwas anderes ist es, wenn es am Arbeitsplatz geschieht, hier ist man schnell beim sogenannten Mobbing – und der betroffene Mitarbeiter wird durch Gesetze davor geschützt, weil Ausgrenzungen am Arbeitsplatz grundrechtsrelevant sein können. Auch in der Gesamtgesellschaft bestehen bestimmte traditionelle ungeschriebene weiche Sozialnormen, etwa wie man einander grüßt oder wie man sich bei bestimmten Anlässen kleidet etc. Die Sanktionen bei Verstößen gegen diese Sozialnormen sind aber nicht so weitgehend, daß die Grundrechte des Betroffenen eingeschränkt werden. 

Jene, die Ausgrenzung „unbotmäßiger“ Bürger fordern, argumentieren, diese sei nur die natürliche Reaktion einer demokratischen Gesellschaft. Die der Tabubrecher also selbst provoziert habe und die er zudem durch Verhaltensänderung jederzeit selbst beenden könne. Ist da nicht auch etwas dran?

Maaßen: Nein, denn gerade das ist ja das Totalitäre daran! Da, wie gesagt, im freiheitlichen Rechtsstaat die Grenze des Sagbaren das Recht definiert – was bei uns sogar im Grundgesetz verankert ist, Stichwort Meinungsfreiheit –, haben Meinungsäußerungen, die diese Grenze – inklusive des Volksverhetzungsstraftatbestands – nicht verletzen, sanktionslos zu bleiben. Eben das macht die liberale Demokratie aus! Ein paralleles soziales Recht, durchgedrückt von einer Gruppe ohne demokratische Legitimation, stellt daher eine Aushöhlung der Meinungsfreiheit dar und somit einen Angriff auf das Grundgesetz und den liberalen Rechtsstaat! 

Aber findet das hierzulande statt oder behaupten Sie das nur? Bisher haben Sie – außer Mohr – kein Beispiel dafür genannt, daß Ihre Analyse die Realität beschreibt. 

Maaßen: Es ist wohl unstreitig, daß zum Beispiel etliche nichtlinke Standpunkte gezielt ausgegrenzt werden. Das wird ja sogar ganz offen gefordert. Ich denke da zum Beispiel daran, daß mir ein Fernsehjournalist vorhielt, ich würde mich „rechtspopulistisch“ äußern, als ich sagte, Asylrecht genießt nicht, wer aus einem sicheren Drittstaat kommt. Das ist die Formulierung aus Artikel 16a des Grundgesetzes – schon bestimmte Zitate aus dem Grundgesetz werden also bereits als „rechtspopulistisch“ stigmatisiert. Doch mit einer demokratischen Debatte ist das Ausgrenzen rechtskonformer Meinungen unvereinbar. Denn das Merkmal demokratischer Debatten ist gerade die grundsätzliche Gleichwertigkeit aller Meinungen – mit Ausnahme der extremistischen. Wobei man sich auch diese anhören muß. 

Inwiefern?

Maaßen: Ich meine den Irrglauben, wir hätten ein Recht darauf, von extremistischen Meinungen per se verschont zu bleiben. Das ist nicht der Fall, und zwar wegen des Primats der Meinungsfreiheit, die auch extremistische Meinungen bis zu einem gewissen Grad schützt.

Bis zu welchem?

Maaßen: Zulässig ist es, bestimmte extremistische linke oder rechte Inhalte zu äußern, etwa links die Enteignung der Wirtschaft oder auf politisch rechter Seite die Abschaffung des Asylrechts. Meinungsfreiheit gilt grundsätzlich auch für diese Meinungen, soweit man sich damit nicht strafbar macht. Unzulässig wird es, wenn Bürger mit ihrer nicht extremistischen Meinung von der demokratischen Debatte ausgeschlossen werden, nach der Devise: Mit denen redet man nicht! Die Ersetzung des Rechts durch Moral führt dazu, daß der demokratische Grundsatz der Gleichheitwertigkeit der Meinungen dem nichtdemokratischen Prinzip weicht, daß „falsche“ Meinungen kein Recht auf Partizipation hätten. Doch genau das ist das typische Merkmal des Totalitarismus, wo die Debatte durch das Dogma ersetzt wird und nur noch „Rechtgläubigen“ Partizipation gewährt wird.

Wir sind also keine freiheitliche Gesellschaft mehr, sondern bereits eine totalitäre? 

Maaßen: Nein, das wäre ein Mißverständnis. Denn ich spreche von der Debatte – nicht aber von unserer Demokratie an sich. Zwar ist die Debatte ein wichtiges Element der Demokratie, aber sie ist nicht mit ihr identisch. Deshalb bedeutet der Umstand, daß sie totalitäre Züge entwickelt – so beunruhigend das ist – noch lange nicht, daß wir im Totalitarismus leben, also die Demokratie abgeschafft wäre. Davon sind wir zum Glück noch weit entfernt! 

Was kann nun gegen diese Entwicklung getan werden? 

Maaßen: Da wir also trotz allem eine Demokratie haben, gibt es immer noch etliche Möglichkeiten, sich dem entgegenzustellen. Ich tue das ja etwa, wie bekannt, durch mein Engagement in der Werteunion. Natürlich erleben wir in der CDU einen teilweise bestürzend illiberalen Umgang mit uns. Etwa wenn wir sogar von Parteifreunden öffentlich als „Krebsgeschwür“ diffamiert werden. Oder wenn Medien, statt die Politik der Herrschenden kritisch zu hinterfragen, sie vor den Kritikern schützen, indem sie Kritiker diskreditieren und diffamieren. 

Wenn in unserer Gesellschaft Totalitäres im Gange ist, müßte dann nicht der Verfassungsschutz Alarm schlagen? 

Maaßen: Nein, schon einmal weil „totalitär“ für den Verfassungsschutz keine Rolle spielt. Sein Kriterium ist der „Extremismus“: also die Frage, ob die verfassungsmäßige Ordnung gezielt überwunden werden soll. Zudem hat er über Personen und Gruppen zu wachen, die solches betreiben, nicht aber über „Tendenzen“ in der Gesellschaft. 

Aber diese Tendenzen manifestieren sich doch nicht aus dem Nichts, sondern werden von Personen und Gruppen getragen. Etwa wenn die CSU die AfD zu „Feinden Bayerns“ erklärt, wenn staatliche Fördermittel der zum Teil terroristischen Antifa zufließen oder die Bundesregierung, Medien und öffentliche Institutionen ganz offiziell den „Kampf gegen Rechts“ finanzieren.

Maaßen: Oder wenn eine Organisation wie die Amadeu-Antonio-Stiftung eine solche Stimme in der Politik bekommt – was ich als so etwas wie ein Organversagen der Politik betrachte. Dennoch entspricht es nicht dem Auftrag des Verfassungsschutzes, die Regierung, Parteien oder unsere Medien zu überwachen. Diese Mißstände zu beseitigen ist Aufgabe der Gesellschaft, also der Öffentlichkeit, Parteien, Medien, Institutionen etc. Die aber tun das unzureichend. Und so wären wir wieder am Anfang unseres Problems.

Wie konnte es so weit kommen?

Maaßen: Ich glaube, weil die rationale Debatte, die auf schlüssigen Argumenten, belegbaren Fakten und gleichen Regeln für alle fußt, durch eine irrationale Debatte abgelöst worden ist, die allein auf Narrativen beruht. Das führt dazu, daß auch dann, wenn jemand, wie im Fall Sarrazin, seine Aussagen sogar mit Zahlen des Statistischen Bundesamtes und Erkenntnissen wissenschaftlicher Kapazitäten belegen kann – also nach bürgerlichen Maßstäben bewiesen hat, recht zu haben – sich nicht gegen das linke Narrativ durchsetzen kann und als „Populist“ gilt. Oder wir sehen das auch aktuell beim Vorwurf des „strukturellen Rassismus“ und der „rassistischen Gewalt“ gegenüber der Polizei. Der zwar durch nichts belegt ist – und dennoch von einem Teil der Politik und etlichen Medien so behandelt wird, als sei er längst bewiesen. Geschickterweise wird von diesen gar nicht erst die Frage gestellt, ob er zutrifft. So muß man den Vorwurf auch gar nicht mehr erst beweisen – und es siegt das Narrativ. 

Ist die Lage also Folge eines Versagens der Bürgerlichen, die sich linken Narrativen unterwerfen, statt auf rationaler Debatte – Argumente, Fakten, Parität – zu bestehen?

Maaßen: Nun, der Angriff kommt von links, das wollen wir nicht vergessen. Wenn man dem bürgerlichen Lager etwas vorwerfen kann, dann daß es diesen nicht rechtzeitig erkannt hat. Inzwischen sind wirkliche Bürgerliche aus den Medien und Institutionen vielfach verschwunden. Man hat also gar nicht mehr die Macht, noch eine andere Debatte einzufordern. Fast bleibt ja den Bürgerlichen kaum noch etwas anderes übrig, als sich ins Privat- und Berufsleben zurückzuziehen. 

Union, FDP und SPD gelten traditionell als Hüter der bürgerlichen Demokratie und müßten folglich den Kampf führen – tun sie aber nicht. Haben sie also versagt?

Maaßen: Die FDP ist inzwischen kaum mehr vernehmbar. Die SPD unterliegt seit Jahrzehnten dem Einfluß äußerst linker Positionen, gegenüber denen sich abzugrenzen sie stets Probleme hatte. Und die Union unterliegt seit mindestens 15 Jahren einem Linkstrend, der sich in den letzten Jahren erheblich beschleunigt hat.

Das klingt fast verständnisvoll. Doch muß man diese „Hüter“ nicht anklagen, sich zu „willigen Vollstreckern“ gemacht zu haben?

Maaßen: Die Parteien spielen gar nicht die allein entscheidende Rolle. Wie gesagt sind es die Institutionen quer durch die Gesellschaft, die sich angepaßt haben – bis hin zu den Kirchen. Selbst wenn sie wollten, könnten die Parteien alleine das nicht ändern. Was wir erleben, sind die Auswirkungen einer chronischen Entwicklung, die seit Jahrzehnten andauert. Und durch die, um das einmal klar und deutlich zu benennen, Sozialisten die Deutungshoheit über politische Geschehnisse und die Herrschaft über den politischen Diskurs schrittweise an sich ziehen. Sie entscheiden mittlerweile, wer mit welchen Themen zugelassen wird. Eine klassische sozialistische Strategie, wie ein Blick ins Geschichtsbuch zeigt – wie sie auch in der DDR angewendet wurde! Es handelt sich also um einen langwierigen Erosionsprozeß, der sich nicht mit einem politischen Kraftakt reparieren läßt, wie Sie ihn sich vielleicht wünschen. Sondern der einen grundlegenden demokratischen Heilungsprozeß erfordert, für den es wiederum einen langen demokratischen Atem braucht. 






Dr. Hans-Georg Maaßen, war von 2012 bis 2018 Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Der Jurist ist Mitglied der CDU und engagiert sich in der Werteunion. Geboren wurde er 1962 in Mönchengladbach.

Foto: Ehemaliger Spitzenbeamter Maaßen: „Andere Meinungen als ‘falsch‘ von demokratischer Partizipation auszuschließen ist ein Merkmal von Diktaturen“ 

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