© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/20 / 14. August 2020

„Da können wir nicht mithalten“
Fernfahreralltag: Statt Romantik der „Asphalt-Cowboys“ steigender Protest gegen Preisverfall, Sozialdumping und Spottpreise durch osteuropäische Firmen
Jörg Sobolewski

Phil Dennett blickt mit einer Mischung aus Stolz und Wehmut auf die vor ihm ausgebreiteten Fotos: „Das waren alles mal meine Fahrzeuge.“ Der rüstige Rentner aus St. Helens bei Liverpool ist einer der letzten seiner Art. Seine Ausbildung zum Berufskraftfahrer hat er noch bei der staatlichen Spedition in den Fünfzigern gemacht. Auf einem klapprigen Lastwagen des britischen Herstellers Edwin Richard Foden – kurz ERF. „Das war im Führerhaus so laut und so warm – kein Wunder, man saß ja fast direkt auf dem Motor!“ lacht er und zeigt das Bild eines verbeulten Oldtimers. „Für mich war das immer mein Lebenstraum, mein Vater war schon Fahrer eines Lieferwagens, und ich wollte das auch. Durch ganz Europa bin ich gefahren. Naja, zumindest dort, wo man damals halt fahren konnte, Frankreich, Deutschland und so weiter.“ 

Der Transportbranche fehlen 50.000 Fahrer 

Er hat sich hochgearbeitet. Nach einigen Jahren „auf dem Bock“ gründete er seine eigene Spedition und stellte ehemalige Kollegen ein. In den Achtzigern und Neunzigern, als sich mehr und mehr Lastverkehr von der Schiene auf die Straße verlagerte, hatte er seine besten Tage. „Damals fuhren meine Jungs überallhin. Auf den neuen Wagen von Scania oder Benz war das ja auch fast ein Vergnügen. Da konnten unsere englischen Produzenten kaum mehr mithalten. Aber heute will ja auch kaum mehr ein Engländer Güter durch die Gegend fahren“, seufzt er und sortiert seine Fotos. 

Tatsächlich hat der Anteil ausländischer Fahrer im Vereinigten Königreich früher als auf dem Festland massiv zugenommen. Im Geschäftsjahr 2018 stellten Mitarbeiter ohne UK-Staatsbürgerschaft über 14 Prozent der Lkw-Fahrer und sogar ein gutes Viertel der Mitarbeiter in den Logistikzentren. In Deutschland hat der Trend später eingesetzt, aber dann schnell zugelegt. Hier sind es über 15 Prozent ohne deutsche Staatsbürgerschaft, meist sind es Osteuropäer. 

Auch Phil hat früh begonnen, in Osteuropa zu rekrutieren. „In den Neunzigern kamen die ersten Polen. Gute Jungs, motiviert und intelligent. Ein paar hatten sogar studiert, waren Ingenieure oder Maschinenbauer. Keine Beschwerden und für jedes Problem eine Lösung parat.“ 

Ob er nicht damit den englischen Fahrern die Konkurrenz ins Land geholt hat? Er winkt ab „Quatsch. Diese Ausbildung will doch keiner mehr machen. Du bist abends nicht zu Hause und soziales Prestige gibt es auch nicht. Frag doch die deutschen Kollegen, die werden dir dasselbe erzählen.“

Tatsächlich gibt es einen enormen Fahrermangel in allen westeuropäischen Ländern. Im vergangenen Jahr fehlten über 50.000 Fahrer in der deutschen Transportbranche. Jedes Jahr gehen in Deutschland rund 30.000 Fahrer in Rente, bestenfalls rund 15.000 Fahrer kommen nach. „Früher haben viele Jungs bei der Bundeswehr den Lkw-Führerschein gemacht, und dann mußten wir sie nur noch als Berufskraftfahrer schulen“, sagt Matthias M. Er arbeitet für eine der größten deutschen Speditionen, seinen Namen will er nicht in der Zeitung lesen, denn was er sagt, ist auch eine Abrechnung mit den Entscheidungsträgern in der Branche. „Der Beruf des Kraftfahrers hat ein miserables Image hier. Abseits von Fernsehsendungen auf DMAX oder RTL existiert doch nichts, das unsere Arbeit in einem guten Licht erscheinen läßt. Ganz im Gegenteil, wir machen die Straßen kaputt und blasen Kohlenstoffdioxid in die Atmosphäre. Dabei sind wir es, die dafür Sorge tragen, daß morgens die Sojamilch in Kreuzberg im Biomarkt steht. Daß unsere Interessenvertreter und Arbeitgeber das nicht besser kommunizieren, ist ein Skandal.“ 

Gemeinsam mit hundert Kollegen ist Matthias in einer Sternfahrt ins Berliner Regierungsviertel gefahren. Sie demonstrieren gegen Preisverfall, Sozialdumping und Spottpreise durch osteuropäische Subunternehmer (Kabotage). „Die Kollegen aus Rumänien, Litauen oder Bulgarien fahren für einen Niedriglohn. Da können wir nicht mithalten.“ An den individuellen Fahrern will er dennoch keine Kritik üben: „Das sind gute Jungs, so wie wir auch. Schuld ist die Politik, die hier nicht eingreifen will, aber dann den Fahrermangel beklagt. Wenn nicht einmal die Löhne steigen können, wieso soll man dann diesen Job machen?“ 

Tatsächlich ist der Bundesregierung der Mangel an ausgebildeten Lkw Fahrern bewußt, so richtet sich ein Passus in der novellierten Beschäftigungsverordnung aus diesem Jahr dezidiert an zuwanderungswillige Kraftfahrer. Auch Nicht-EU-Bürgern soll so die Berufsaufnahme in der Bundesrepublik erleichtert werden. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich die Reform allerdings als Reförmchen. Von wenigen hundert Fahrern pro Jahr zusätzlich geht die Bundesregierung aus, wie eine Anfrage des AfD-Bundestagsabgeordneten René Springer ergibt.

Befragt man einheimische Fahrer wie Matthias dazu, wird einhellig abgewunken. „Langfristig führt da sowieso kein Weg dran vorbei. Einige Firmen fliegen ihre Fahrer bereits aus den Philippinen ein und stellen die in Polen an. Das ist eine Schweinerei. Besser wäre es doch, man würde europaweit einheitliche Regeln schaffen. Dann könnte man das Thema Fahrermangel auch gemeinsam angehen.“ 

Die Stimmung ist bei vielen Truckern im Keller

Hinsichtlich des Kabotage-Problems  zeigt der Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL) etwas Optimismus. So begrüßte er Anfang Juli die Schwerpunktkontrollen des Bundesamtes für Güterverkehr (BAG) zur Durchsetzung der sogenannten Kabotage-Bestimmungen, die gebietsfremden Lkw illegale innerdeutsche Transporte untersagen. „Dies ist ein wichtiger Schritt zur Durchsetzung legaler und fairer Wettbewerbsbedingungen im Straßengüterverkehr. Deshalb stehen auch wir in engem Kontakt mit den Kontrollbehörden: damit der Kontrolldruck gegen illegale Geschäftspraktiken weiter ansteigt“, erklärte BGL-Vorstandssprecher Dirk Engelhardt.

Das BAG hatte vom 1. bis 3. Juli Schwerpunktkontrollen zur Einhaltung der Kabotage-Bestimmungen in Sachsen durchgeführt – insbesondere bei Fahrzeugen, die beim Holztransport zum Einsatz kamen. Bei rund 41 Prozent der kontrollierten Kabotage-Beförderungen wurden Verstöße gegen die geltenden Kabotage-Bestimmungen festgestellt. 

Die Kontrollen fanden rund um Torgau an der Bundestraße 87 statt. Deren Bilanz: Insgesamt wurden 51 Fahrzeugkombinationen (11 deutsche und 40 gebietsfremde Fahrzeuge) kontrolliert. Hiervon wurden 21 Fahrzeuge beanstandet. 27 Kabotagebeförderungen sind bei den Kontrollen angetroffen worden. 

In den überwiegenden Fällen handelte es sich bei den Kabotageverstößen um polnische Fahrzeugkombinationen, die Rundholz aus dem Harz nach Torgau beförderten. Alle Fahrzeuge reisten zu Beginn der Woche unbeladen von Polen nach Deutschland ein, um anschließend Kabotagefahrten zwischen den Wäldern im Harz und einer Holzfabrik in Torgau durchzuführen.

Ob angesichts derartiger Problemstellungen dann nicht auch die Brüderlichkeit der „Asphalt-Cowboys“ leidet, wenn auf einmal der Markt mit Externen überschwemmt wird? Matthias zuckt mit den Achseln. „Unsere Art zu leben und zu arbeiten ist sowieso zum Sterben auf Raten verurteilt. Jetzt dürfen wir nicht einmal mehr in unserer Fahrerkabine schlafen, dabei ist das eigentlich ganz bequem. So ein Fahrerhotel an der Autobahn ist wie ein Gefängnis.“ 

Umstehende pflichten ihm bei, einer ergänzt: „Früher waren wir die selbständigen Ritter der Autobahn. Wir haben einander geholfen, wo wir konnten, und über Funk wurden ganze Freundschaften gepflegt. Heute ist das nicht mehr so, warum, weiß ich auch nicht genau. Die Stimmung ist einfach weg.“ 

Glücklicherweise hat das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) Mitte Juni die Bundesländer darum gebeten, das umstrittene Verbot der Nutzung von Geräten ohne Freisprechanlage (einschließlich CB-Funkgeräte) bis einschließlich 31. Januar 2021 hinauszuzögern. Geplant war, daß ab 1. Juli 2020 für die Verwendung von Funkgeräten während der Fahrt die gleichen Regeln wie für alle elektronischen Geräte gelten sollen. Die Benutzung erfordert dann eine Freisprecheinrichtung oder ein Headset, so ein Bericht der VerkehrsRundschau. 

Technisierung erleichtert das Fahren

Es wirkt wehmütig und stolz, wenn alte Geschichten von spontaner Hilfeleistung, Kameradschaft und – auch grenzüberschreitender – Freundschaft erzählt werden. Viele der Fahrer sind mehrsprachig. Nicht mehrsprachig wie mehrsprachige Professoren oder Lehrer, sondern mehrsprachig wie Leute, die Sprachen sprechen, um das zu kommunizieren, was notwendig ist, wenn man sich über Stunden und Tage die gleichen Autobahnen teilen muß. 

Auch Phil hat in seinem Berufsleben ein paar Brocken Deutsch aufgeschnappt. Aber nicht so viel wie erhofft, denn mit seiner Muttersprache kam er schon vor dem Fall der Mauer weit. Über seine ehemaligen Kollegen vom Festland kann er nichts Böses sagen. „Gute Leute, gute Autos, gute Straßen“, lacht er. Welche Zukunftsaussicht er der europäischen Fahrerzunft ausstellt? „Das Geschäft wird sich weiter professionalisieren und internationalisieren. Viele Fahrer kommen heute schon aus der Ukraine. Dann die Technik: Assistenzsysteme erleichtern auf der einen Seite das Fahren, machen aber auf der anderen Seite den Fahrer zu einem reinen Angestellten, und langfristig werden die neuen Maschinen sowieso autonom fahren. Dann ist das selbständige Fahrerdasein endgültig Geschichte.“ 

Matthias will ihm da nicht zustimmen, er wiegt nachdenklich den Kopf. „Klar, in die durchgetakteten Abläufe unserer Wirtschaft passen wir nicht mehr so richtig rein. Es gibt ja kaum mehr Lagerplätze, also müssen wir genau zur richtigen Zeit beim Empfänger ankommen, sonst stehen bei dem die Maschinen still. Wir müssen eben funktionieren. Aber bisher machen wir das immer noch tausendmal besser als ein Roboter. Wir haben eben unsere Erfahrung und Intuition. Ein Computer hat keins von beidem.“

Als sie wieder in ihre schweren Maschinen steigen, wirken sie wie Fremdkörper in der Bundeshauptstadt. Zwischen Regierungsbauten aus Glas, E-Bikes und Scootern sind die Trucks aus der Zeit gefallen. In die schöne neue Welt aus Elektromobilität und Klimarettung sind sie für ein paar Stunden eingebrochen, um daran zu erinnern, daß kein E-Bike und kein E-Auto ohne ihre unermüdliche Arbeit auf den Straßen der Hauptstadt verkehren würde. Wie lange das aber noch so bleiben wird, ist fraglich.