© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/20 / 14. August 2020

Dorn im Auge
Christian Dorn

Das Motto „Love To Win“, auf dem T-Shirt des – augenscheinlich arabischen – Mädchens im Vorschulalter, aufgestickt unter einem glitzernden schwarzrotgoldenen Herzen, spricht eine deutliche Sprache: Migration = Bereicherung, und das sogar, um an Martin Schulz zu erinnern, bei dem aktuell steigenden Goldpreis! Die etwas ältere Schwester ruft immer wieder voller Begeisterung „Deutschland, Deutschland“, und kann sich vor lauter Freude kaum einkriegen, so daß sie mit ihren zwei Händen versucht, ihrem Bruder – dem ältesten der insgesamt vier Kinder, deren Mutter ein Kopftuch trägt, das zugleich als Mundschutz dient – an der linken und rechten Wange die Mundwinkel zu einem Lächeln hochzuziehen. Doch der, bereits passionierter Pascha, verpaßt seinen zwei Schwestern immer wieder mit Schmackes plötzliche Backpfeifen, welche die Mädchen nahezu regungslos hinnehmen. Zuvor hatte ich, halb ernst, halb ironisch, der „reizenden Begleiterscheinung“ im Zug – drei ebenso adretten wie attraktiven Realschul-Absolventinnen, deren berufliche Ziele „Erziehung“ und „Rechtspflege“ sind – noch zu ihrer Wahl beglückwünscht: Das seien „Berufsfelder mit Zukunft“.


Um diese sorgte sich schon August Bebel mit dem Postulat: „Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten.“ Dabei hilft das Jahr 1989 nur bedingt, doch immerhin: „Der Zug von Millionen“, der „endlos aus Nächtigem quillt“ – so die berühmte Zeile aus dem revolutionären Arbeiterlied „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ – kam mir als erstes in den Sinn, als ich am entscheidenden Tag der „friedlichen Revolution“, am 9. Oktober, in Leipzig war und die nicht enden wollenden Menschenmassen sah, die auf Höhe der Oper in den sichtbaren Teil des Rings einmündeten und einfach nicht aufhören wollten. Die geschätzte Zahl von etwa über hunderttausend Menschen, die wirklich für ihre „Grundrechte“ eintraten, markieren nicht nur zahlenmäßig einen deutlichen Unterschied zu der Demonstration am 1. August auf der Straße des 17. Juni. Dennoch sorgen die plötzlichen Rufe aus dem Herbst ’89 („Wir sind das Volk“, „Wir bleiben hier“, „Schließt euch an!“) für einen kurzen Moment von Gänsehaut. Und ich frage mich: Ist das jetzt ein Erkenntnisgewinn? Immerhin buchstabiert oder vielmehr exemplifiziert eine Demonstrantin auf ihrem Rücken den Begriff „Pandemie“ mit: „Panik, Angst, Notstandsgesetz, Distanzeritis, Einschüchterung, Maskenimpfung, Irrsinn, Ende der Freiheit“. Das erinnert dann doch an den Alexanderplatz am 4. November 1989.