© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/20 / 14. August 2020

Außenpolitischer Autismus
Ein Sammelband mit interessanten Analysen über eine fehlgeleitete deutsche Außenpolitik
Peter Seidel

Wenn Staaten keine wahrnehmbare Außenpolitik haben, sind sie entweder geteilt und besetzt oder klein und unbedeutend. So zeichnet sich etwa San Marino nach außen vor allem durch originell gestaltete Briefmarken aus, und Monaco hat der Französischen Republik die Ausübung seiner Außenpolitik gleich ganz überlassen. Doch was ist, wenn ein großes Land über keine Außenpolitik verfügt oder verfügen will? Glaubt man der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), der wohl wichtigsten deutschen außenpolitischen Denkfabrik und in beratender Funktion beim Bundeskanzleramt, dann handelt es sich um APA, ausgesprochen: „Außenpolitischen Autismus“. Nein, nicht die gesamte SWP hält dafür, aber doch der Politikwissenschaftler Hanns Maull, seines Zeichens Senior dieses Wissenschaftsbetriebes. Sein jüngster Aufsatz zum Thema hat es in sich. Veröffentlicht ist er von Volker Stanzel im Sammelband „Die neue Wirklichkeit der Außenpolitik. Diplomatie im 21. Jahrhundert“.

Ganz so neu ist diese Wirklichkeit zwar nicht, wie die zehn Aufsätze des Sammelbandes zeigen, von denen neben dem von Maull nur noch der von Karsten Voigt erwähnt werden soll,  dem langjährigen außenpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Sein Hinweis, „in den nächsten Jahren“ sollte doch immerhin einmal „geprüft werden“, ob eine seit Jahren in Deutschland diskutierte stärkere Koordinierung und Konzipierung deutscher Außen-, Sicherheits- und Europapolitik etwa im Kanzleramt akute Probleme „lösen oder nur verschieben würde“, ist überfällig. Allerdings kommt die Analyse bezeichnenderweise ohne jeden Hinweis auf die Forderung nach einem deutschen Nationalen Sicherheitsrat aus. Und damit sind wir bereits mittendrin in der Problematik: Dies und der Hinweis in den meisten Beiträgen, daß sich Außenpolitik bzw. die Tätigkeit von Diplomaten durch neue Akteure, Digitalisierung und vergrößerte Öffentlichkeiten geändert hat, kann den vom Auswärtigen Amt geförderten Band nicht unbedingt rechtfertigen: dies tut nahezu ausschließlich der Aufsatz zum „außenpolitischen Autismus“. 

Ergebnis emotional aufgeladener Politik

 Ein solcher außenpolitischer Autismus habe, so Maull, vor allem vier Aspekte: Er beschreibt Muster von Verhalten, die unangemessen sind, die „Interessen des Staates und seines Volkes zu realisieren“, kann „Folge politischer Fehlentwicklungen oder von emotional aufgeladener Politik“ sein, Folge „übermäßig taktischer Nutzung außenpolitischer Inhalte für innenpolitische Manöver, oder, hervorgerufen sein durch grobe Verzerrungen „aufgrund emotional aufgeladener kollektiver Einstellungen“ oder „Schuldgefühle wegen vergangener Ereignisse“, die als „emotionaler Ballast“ dazu führten, „daß sich Staaten kognitiv abschotten und Beobachtungen nicht mehr zur Kenntnis nehmen, die den eigenen Gefühlen und Weltbildern nicht entsprechen“, ja sich „hermetisch gegen Korrekturen an der Realität“ abschließen. 

Dies ist starker Tobak, fußt aber interessanterweise auf den frühen politikwissenschaftlichen Vorarbeiten von Karl W. Deutsch und Dieter Senghaas, wobei letzterer diesen Ansatz als „kritischer  Friedensforscher“ einst für seine Kritik an der nuklearen Abschreckung entwickelte. Dazu Maull: Interessant sei dabei vor allem das grundsätzliche Argument, wonach Staaten genau wie Individuen „ein politisches Defizit entwickeln“, das man als Autismus bezeichnen könne. Dieser könne auch das Überleben und Vorankommen der EU gefährden, die auf „solide öffentliche Unterstützung für europäische Politik auf der Grundlage von Konzepten nationaler Identität, Souveränität und Politik“ angewiesen sei. Ein sehr aktueller Verweis, gerade angesichts der seit einigen Jahren gefährdeten EU und ihrer ideologisch überzogenen Fehlentwicklungen („Mehr Europa“ als Patentrezept).

Vergleicht man dieses neue Konzept aus den Reihen der SWP mit dem von ihr vor einigen Jahren etablierten Konzept der strategischen Kultur, das längst von Emmanuel Macron in die politische Strategie Frankreichs für Europa und die EU übernommen wurde, kommt man um die Schlußfolgerung wohl nicht herum, dieser so kreative Berliner Think Tank habe die Begriffe „strategische Kultur“ eigens für Frankreich und „politischen Autismus“ eigens für Deutschland entwickelt. Daß auf das Signal von der Sorbonne kein Echo aus Berlin kam, überrascht so nicht. 

Auch für die Zukunft ist zu erwarten, daß französische strategische Kultur und deutscher außenpolitischer Autismus nicht kompatibel sind – wenn nicht die Corona-Krise die Karten völlig neu mischt. Fragt sich nur, in welche Richtung: Der Brexit ist noch nicht in trockenen Tüchern, und schon werden angesichts der damit verbundenen Veränderung der Mehrheiten in der Staatengemeinschaft bereits die ersten Versuche gemacht, unter dem Vorwand der Krise die EU endgültig in Richtung Transfer-union umzubauen. Nicht nur durch Eurobonds, und nicht nur in Italien. Wie lange noch wollen wir davor die Augen verschließen?

Volker Stanzel (Hrsg.):  Die neue Wirklichkeit der Außenpolitik. Nomos Verlag, Baden-Baden 2019, broschiert, 144 Seiten, 29 Euro