© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/20 / 21. August 2020

Kampf mit dem seelischen Abgrund
Kindesmißbrauch: Die therapeutische Arbeit mit Pädosexuellen stellt einen wichtigen Beitrag zum Opferschutz dar / Prozeßauftakt in Köln
Philipp Meyer

Über den rotbraunen Tartanplatz rennen ein Dutzend Gestalten. In der drückenden Hitze eines Sommernachmittags kämpfen sie verbissen um den Ballbesitz. Sturm, Konter, Foulspiel, Freistoß. Das Fußballspiel verläuft völlig normal, seine Umstände sind es jedoch nicht. Denn der Bolzplatz befindet sich hinter den Mauern einer süddeutschen Justizvollzugsanstalt. Bei den Fußballspielern handelt es sich um inhaftierte Betrüger, Dealer oder Totschläger. Als Unparteiischer wacht ein anderer Häftling über sie. Thorsten ist etwa Mitte Vierzig und trägt einen kurzen, braunen Vollbart. 

Zum Schiedsrichter wurde er jedoch nicht aufgrund einer natürlichen Autorität, sondern nach einem lange währenden Streit. Keiner der Häftlinge wollte mit dem Mann, den sie nur den „Sittich“ nennen, in einer Mannschaft spielen. Als Gegner akzeptierten sie ihn jedoch noch weniger auf dem Platz, da das Körperkontakt ermöglichen könnte. Erst ein Machtwort des Gefängnisdirektors verschaffte Thorsten einen Platz auf dem Spielfeld. Sein Amt als Schiedsrichter war ein Kompromiß, um die aufgeregten Gemüter der anderen Häftlinge zu beruhigen. 

Anormale Neigung,          die Leben zerstört

Denn „Sittich“ leitet sich in der blumigen Knastsprache aus dem etwas veralteten Begriff des Sittlichkeitsverbrechers ab. Thorsten ist Sexualstraftäter, ein Pädophiler, um genau zu sein. Der Sittich, der Perverse, der Kinderschänder – das ist jemand, der selbst in der Gefängnishierarchie einen Paria darstellt. Die Sozialarbeiter raten ihnen dringend dazu, andere Straftaten als Haftgrund zu erfinden, um gewalttätigen Übergriffen durch Mitgefangene zu entgehen. 

Pädophilie. Ein Begriff mit enormer Sprengkraft. Schon seine Nutzung ist umstritten, enthält er doch im zweiten Teil das altgriechische Wort für „Freundschaft“. Was ein Pädosexueller jedoch bei Minderjährigen anrichtet, hat nicht im mindesten etwas mit Freundschaft zu tun. Diese wird simuliert, manipuliert und vorgeschoben, um Vertrauen für den anschließenden schweren körperlichen und emotionalen Mißbrauch der Opfer zu gewinnen. Die Ausnutzung von kindlicher und jugendlicher Naivität zur Befriedigung dieser anormalen Neigung zerstört Leben. Die der Opfer, ihrer Angehörigen, manchmal auch der Täter.   

In Deutschland werden etwa 50.000 bis 250.000 pädosexuelle Männer vermutet, Frauen sind als Tätergruppe noch nahezu unerforscht. Jedes Jahr werden in den Kriminalstatistiken im Schnitt etwa 14.000 sexuelle Mißbrauchshandlungen an Kindern erfaßt. Die Dunkelziffer, da sind sich alle Experten einig, liegt nochmals deutlich höher. Bis zu 20mal, vermuten manche Studien. Das sind abgründige Zahlen. 

Schwer, ohne Abscheu       auf die Täter zu blicken

Gerade hat vor dem Kölner Landgericht der Prozeß gegen den 39jährigen Hauptangeklagten im Mißbrauchskomplex von Bergisch Gladbach begonnen. Er soll seine eigenen Kinder mißbraucht und die Taten als Video anderen zur Verfügung gestellt haben. Seit der Pädophilenring im Herbst 2019 aufflog, wurden allein in Deutschland über 70 Tatverdächtige identifiziert, von denen zehn in Untersuchungshaft sitzen. Fassungslos macht jedoch das vermutete Ausmaß des Mißbrauchsnetzwerks: Ermittler gehen von über 30.000 Nutzern des mehrere Terabyte umfassenden kinderpornographischen Materials aus. 

In Chatgruppen trafen sich Hunderte Pädosexuelle, die sich gegenseitig Ratschläge gaben und Unentschlossene dazu drängten, ihre Mißbrauchsphantasien in die Tat umzusetzen. Social Media und Darknet ermöglichen neue Dimensionen in der Vorgehensweise der international vernetzten Pädokriminellen.          

Die Meinung in der deutschen Bevölkerung über die Monstrosität dieser Verbrechen ist eindeutig. In Umfragen sprechen sich über die Hälfte der Befragten regelmäßig für lebenslange Haftstrafen für Pädosexuelle aus, ein Drittel kann sich sogar die Todesstrafe für derartige Vergehen vorstellen. Pädophilie, das Vergreifen an den Schutzlosesten der Gesellschaft, gilt als die anstößigste Straftat überhaupt. Da sind sich Bürofachangestellte wie gewalttätiger Intensivstraftäter überraschend einig. Nicht einmal fünf Prozent könnten sich vorstellen, mit einem Pädophilen befreundet zu sein – selbst wenn dieser keine pädosexuellen Straftaten begeht.     

Die gesamtgesellschaftliche Ablehnung, so gut sie auch nachzuvollziehen ist, erschwert jedoch die therapeutische Arbeit mit Pädosexuellen. Selbst vielen Therapeuten ist die Vorstellung, diesen Menschen Hilfestellung zu leisten, unangenehm. Zu verstörend die Themen, zu schwer, nicht in Abscheu auf den Klienten zu blicken. Auch das moralische Dilemma, als Psychologe von vergangenen Mißbrauchstaten zu erfahren, die jedoch aufgrund der Schweigepflicht nicht an die Polizei weitergemeldet werden dürfen, kann als sehr belastend empfunden werden. Aber in dieser therapeutischen Betreuung liegt einer der wichtigsten Schlüssel zur Verhinderung weiterer Sexualstraftaten gegen Minderjährige. 

Denn nicht jeder Pädophile wird straffällig. Sei es, weil er das Risiko einer Entdeckung und Verurteilung fürchtet oder tatsächlich das Wohl von Kindern über seine sexuelle Neigung stellt. Gerade für diese Personengruppe besteht ein hoher Leidensdruck, der oft in Selbsthaß und Depression endet. Seit 2005 läuft an der Berliner Charité daher das Projekt „Kein Täter werden“ zur Prävention von sexuellem Kindesmißbrauch. Es bietet ein Programm vor allem für Menschen mit pädosexuellen Gedanken an, die diese jedoch nicht ausleben. Zahlreiche Ableger entstanden seitdem in weiteren deutschen Städten. In den vergangenen 15 Jahren nahmen etwa 10.000 Betroffene das therapeutische Hilfsangebot in Anspruch. Es sind Arbeitslose, Handwerker oder Professoren. 

Impulskontrolle soll mit Therapie verändert werden

Pädophilie läßt sich keinem bestimmten sozialen Milieu zuordnen. Bis heute ist immer noch wenig über diese sexuelle Paraphilie, also die Störung der Sexualpräferenz, bekannt. Es gibt kein überzeugendes Modell zur Erklärung ihrer Entstehung, kein eindeutiges Täterprofil. Meist manifestiert sie sich im jungen Erwachsenenalter. 

Auch Thorsten kam mit Anfang Zwanzig zum ersten Mal der Verdacht, ein Pädophiler zu sein. Er war damals Hausmeister an einer Schule und bemerkte, daß ihm der Anblick vorpubertärer Mädchen besser gefiel, als das normal wäre. Ein Hilfsangebot nahm er nicht in Anspruch, vielleicht hätte das den Mißbrauch einer Minderjährigen durch ihn verhindern können. Nun sitzt er eine vierjährige Haftstrafe ab. „Es ist richtig, daß ich hier bin“, lautet seine lakonische Einschätzung. Die Arbeit mit einem Pädosexuellen wie Thorsten kann nicht den grundlegenden Erfolg bringen, den viele sich wünschen. Eine sexuelle Paraphilie ist keine freie Entscheidung, ein Betroffener kann nicht einfach durch Willenskraft seine Sexualität verändern. Was sich jedoch fördern läßt, ist die Impulskontrolle, Wahrnehmungs- und Empathiefähigkeit. Dadurch entstehen ein Problembewußtsein und Verhaltensstrategien, die künftige Taten verhindern können. Das muß in vielen, oft harten Sitzungen erarbeitet werden. Auch Medikamente wie spezielle Antidepressiva, sogenannte Serotonin-Wiederaufnahmehemmer,  oder antiandrogene Stoffe, die die Wirkung der männlichen Sexualhormone hemmen, können eine triebmindernde Wirkung haben.

Für Thorsten, den Schiedsrichter auf dem Knast-Bolzplatz, bedeutet das, nach seiner Entlassung keinesfalls im Umfeld von Kindern zu arbeiten, nicht an einem Schulweg zu wohnen, Distanz zu wahren. Es wird ein lebenslanger Kampf. Und dieser muß überwacht werden: Therapeutische Anbindung und regelmäßige Kontrolle eines Sexualstraftäters bleiben oberstes Gebot für Bewährungsauflagen. 

Ein Positionspapier der CDU fordert nun eine Verschärfung und das Tragen von elektronischen Fußfesseln für Therapieverweigerer. Auch die Justizbehörden reagieren schon länger sensibel. Etwa 70 Prozent der Sicherungsverwahrten sind Sexualstraftäter. In ihnen sieht man ein so großes Bedrohungspotential, daß sie auch nach Verbüßung ihrer Haftstrafe nicht entlassen werden. 

Immer wieder wird kritisiert, daß die Arbeit mit den Tätern das Leid der Opfer marginalisiere. Daß deren Perspektive nicht genügend Gehör finde und Gelder besser in Opfertherapie und Stärkung der Polizeiarbeit zu investieren seien. Das sind wichtige Punkte. Doch Täter und Opfer können nicht einfach gegeneinander ausgespielt werden. Denn der beste Opferschutz besteht darin, weniger Täter reifen zu lassen.