© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/20 / 21. August 2020

Die Schatten der Vergangenheit aufhellen
Geschichtsrevision: Warum Ankara die Verträge von Sèvres und Lausanne bekämpft / Nationalistische und wirtschaftliche Interessen
Jürgen Liminski

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan rasselt einmal mehr mit dem osmanischen Säbel. Sein Flottenverband rund um die Bohr- und Forschungsschiffe „Barbaros Hayrettin Pasa“, „Yavuz“ und „Oruç Reis“ im östlichen Mittelmeer ist eine weitere Demonstration seines expansiven Machtstrebens. Natürlich verstößt er damit gegen geltendes internationales Seerecht, und genau das ist beabsichtigt. Erdogan stellt die internationalen Verträge in Frage, die die territorialen Verhältnisse vor einem Jahrhundert festlegten. Es geht um den Vertrag von Lausanne und den Vertrag von Sèvres.

Die Schmach tilgen als Motiv islamischen Denkens  

Der Vertrag vom August 1920, der in der Porzellanmanufaktur des Pariser Vorortes Sèvres unterschrieben wurde, hatte den Untergang des Osmanischen Reiches besiegelt. Die Siegermächte des Ersten Weltkriegs wollten damit das osmanische Erbe aufteilen und die Türkei auf einen anatolischen Rest- oder Rumpfstaat begrenzen. 

Die Westküste an der Ägäis sollte Griechenland gehören, der Süden der Küste unter das Mandat Frankreichs und Italiens gestellt werden und im Osten sollten zwei neue Staaten entstehen: Kurdistan und Armenien. Istanbul selbst sollte unter internationale Verwaltung fallen. 

Aber das Porzellan wurde nicht zerschlagen, es gab Widerstand. Die Jungtürken unter Mustafa Kemal mobilisierten die Reste der geschlagenen Armee und die Herzen der Nationalisten. Ihnen kam die Rivalität der Siegermächte, insbesondere zwischen Briten und Franzosen, zugute. 

Auch die Revolution in Rußland absorbierte diplomatische und militärische Ressourcen, der Balkan brodelte, die Amerikaner dachten an Rückkehr, jedenfalls wollten sie den Schutz der Kurden nicht übernehmen, die Unruhen in Deutschland taten ein Übriges. 

Im Schatten der Weltkrise sammelte General Kemal das osmanische Erbe wieder ein. Sèvres wurde nie vollzogen. Es blieb aber das Gefühl der Schmach. Das brannte um so heller, als mit dem Papier in der Porzellanfabrik das Ende der osmanischen Herrlichkeit, die Ära der Hohen Pforte in das kollektive Gedächtnis eingebrannt wurde. 

Wenn heute Erdogan oder seine Vertrauten wie Fahrettin Altun, Kommunikationsdirektor des Präsidenten, über Twitter oder bei Parteiveranstaltungen davon sprechen, die Mauern des Sèvres-Sytems  einreißen zu wollen, dann meinen sie diese Schmach. 

Die Schmach der Vergangenheit ist ein gängiges Motiv islamischen Denkens. Reformer beziehen sich immer auf Zeiten, in denen die grüne Fahne des Propheten über weiten Teilen der Welt wehte. Daten wie 1492, als die Mauren aus Cordoba endgültig abziehen mußten, oder 1571, als die überlegene osmanische Armada bei Lepanto zur Hälfte brennend in den Fluten der griechischen Gewässer versank und zur anderen Hälfte Beute der christlichen Flotte unter Juan de Austria wurde, oder eben auch der Vertrag von Sèvres, sind Marksteine der islamischen und türkischen Geschichte. 

Dunkle Schatten, die es mit Eroberungen und Siegen aufzuhellen gilt. Die Schmach tilgen, zurück in die glanzvollen Zeiten – das sind Saiten der islamischen und türkisch-nationalen Seele, die Erdogan immer wieder anklingen läßt. 

Die Schatten der Vergangenheit sind das eine. Wenn Erdogan aber, meist im gleichen Atemzug, von Lausanne redet, dann denkt er an die Zukunft und zwar in alter osmanischer Größe. Dafür muß der Vertrag von Lausanne aus dem Jahr 1922/23 revidiert werden. Denn dieser Vertrag legt die noch heute gültigen Grenzen der Türkei fest. Er hebt zwar die Beschlüsse von Sèvres auf – Klein-asien gehört wieder ganz der Türkei –, aber die Inseln bleiben griechisch, und die früheren arabischen Provinzen der Hohen Pforte, also die Regionen der heutigen Staaten Syrien, Israel, Libanon, Irak und die Palästinensischen Gebiete, fallen unter die Mandatshoheit Frankreichs und Großbritanniens. 

Ankara sieht westliches Komplott gegen den Islam

Im selben Jahr, 1923, wird die Republik Türkei ausgerufen mit Mustafa Kemal als erstem Präsidenten. Fortan wird er Atatürk genannt, der Vater der Türken. Er schafft das Kalifat endgültig ab, trennt Religion und Staat und verordnet dem Land eine laizistische Verfassung – eine historisch einmalige Großtat für ein islamisches Land. 

Erdogan plant Größeres. In den früheren arabischen Provinzen Syrien und Irak führt er Krieg oder beteiligt sich daran. In Syrien hat er ein vorwiegend von Kurden besiedeltes Gebiet, die Provinz Afrin, besetzt. Im Irak greift er ein und jenseits der Grenze die Kurden an. Den ohnehin kleinlauten Protest europäischer Regierungen vergleicht er mit Sèvres und hält ihn für einen Teil des westlichen Komplotts  gegen den Islam. Die Verschwörung des (christlichen) Westens ist, ähnlich wie das Trauma der Schmach, ein zweites Grund-Narrativ islamistischen Denkens. 

Auch im Mittelmeer löckt er wider den Stachel von Lausanne. Er akzeptiert nicht, daß die Inseln der Ägais, die zum Teil in Sichtweite des türkischen Festlands liegen, alle zu Griechenland gehören. De facto verfügt die Türkei kaum über nationale Seegebiete. 

„Athen soll die Rechte der Türkei respektieren“

Dahinter steckt freilich auch der Neid auf die Öl- und Gasvorkommen, die in den vergangenen Jahren in diesen Seegebieten entdeckt wurden. Auch auf die Öl- und Gasfelder vor den Küsten Libyens, Ägyptens und Zyperns hat er es abgesehen. Ihre Ausbeutung soll die marode türkische Wirtschaft mit der abstürzenden Währung vor dem Zusammenbruch bewahren. 

„Die Türkei wird sich niemals dem Banditentum auf ihrem Festlandsockel beugen, noch wird sie sich angesichts von Sanktionen und Drohungen zurückziehen“, erklärte Erdogan am vergangenen Samstag. Parallel dazu kritisierte er den griechisch-ägyptischen Seeverkehrspakts den Ankara und Kairo in der vergangenen Woche abgeschlossen hatten. Laut Ankara setzten beide Staaten ihre Bemühungen fort, Ankaras Territorium im Mittelmeer, das auf kleinen Inseln in der Nähe der türkischen Küste basiert, einzudämmen und damit die Interessen der Türkei, des Landes mit der längsten Küstenlinie im Mittelmeer, zu verletzen.

„Wir werden niemals zögern, auf die geringste Belästigung unserer Schiffe zu reagieren“, drohte Erdogan nach Angaben der Nachrichten Anadolu seinen Widersachern, um jedoch gleich darauf zu erwähnen, daß die Türkei niemals versuchen werde, „Spannungen zu schüren oder die Rechte anderer einzufordern“. Er betonte, daß die Türkei sowohl die Rechte der Nation als auch die der türkischen Zyprioten verteidige. Die einzige Lösung des Streits liege im Dialog und auf dem Verhandlungsweg, unterstrich der Präsident und forderte Athen auf, endlich die Rechte der Türkei zu respektieren.