© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/20 / 21. August 2020

Tote Ratten im Briefkasten
Kino I: Der Film „Exil“ erzählt die Geschichte einer nur scheinbar gelungenen Integration
Dietmar Mehrens

Daß alles auch ganz anders sein könnte, dämmert dem Zuschauer erst gegen Ende des Films: „Hast du mal darüber nachgedacht“, fragt da Nora (Sandra Hüller) ihren Mann Xhafer (Mišel Maticevic), „daß es gar nicht daran liegt, daß du Ausländer bist, sondern einfach nur ein A…loch?“

Zugetragen hat sich bis zu diesem Zeitpunkt folgendes: Der gut integrierte Kosovo-Albaner Xhafer ist erfolgreich in einem Unternehmen der Pharma-Branche tätig, bewohnt mit seiner deutschen Frau und drei kleinen Kindern ein nettes Kleinstadthäuschen mit Gartengrundstück und hätte allen Grund, glücklich und zufrieden zu sein – gäbe es nicht den bösen Kollegen Urs (wie immer großartig als Miesepeter: Rainer Bock).

Xhafers Karrieresprung auf einen renommierten Posten in seiner Firma scheint Neider auf den Plan gerufen zu haben, boshafte Menschen wie Urs, der ganz offensichtlich Datenmaterial zurückhält, um Xhafer bei Präsentationen alt aussehen zu lassen, oder ihn bei gemeinsamen Unternehmungen von Kollegen ausgrenzt. Xhafer fühlt sich als Außenseiter. Symptomatisch: ein Geschäftsempfang, auf dem niemand es schafft, ohne Rückfrage seinen fremdländischen Namen zu verstehen.

Auch die Beziehung zwischen Xhafer und Nora, die neben ihrer Vollbeschäftigung als Hausfrau und Mutter an einer Dissertation arbeitet, hat schon bessere Tage gesehen. Nora hält die Sorgen ihres Mannes für eingebildet, für Leiden auf hohem Niveau. Xhafers Replik gibt den Ton vor für das weitere Miteinander der Eheleute: „Soll ich mich, wenn ich Kopfschmerzen habe, damit trösten, daß andere einen Hirntumor haben?“ Es offenbaren sich angespannte Nerven und latente Aggressionen.

Die dunkle Bedrohung für die zivilisierte Existenz des Exilkosovaren beginnt mit einem häßlichen Paukenschlag: einer toten Ratte an der Gartenpforte. Die Vermutung, daß sie aus dem Versuchslabor seiner Firma stammt, ist naheliegend. Xhafer bittet Urs um ein Gespräch, doch der lehnt ab. Seine unkooperative Haltung bestärkt Xhafer in der Annahme, hinter den toten Ratten, die sich wenig später haufenweise in seinem Briefkasten finden, müsse Urs stecken. Doch von Anfang an werden auch Risse im Bild des integren Mobbingopfers sichtbar: Xhafer betrügt seine Frau auf dem Firmenklo mit einer Reinigungskraft. Als die ihn in einer privaten Angelegenheit um Hilfe bittet, reagiert er abweisend. Und welche Rolle spielt deren Sohn in dem Drama? Schleppt Xhafer womöglich eine Altlast aus dem Kosovo-Krieg mit sich herum?

Ein sich langsam entfaltendes Seelendrama

Um eine solche Altlast ging es in dem Psycho-Schocker „Caché“ (2005), für den der Österreicher Michael Haneke in Cannes mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet wurde. Er stand bei diesem Mobbing-Drama erkennbar Pate, freilich ohne dessen provokante Pointiertheit und erzählerische Raffinesse zu erreichen. Wie in „Caché“ gibt es einen verstörenden Schockmoment, der abrupt alles bis dahin Gesehene auf den Kopf stellt. Er ist aber bezeichnenderweise bei weitem nicht so drastisch wie bei dem großen Vorbild. Regisseur Visar Morina, selbst 1979 im Kosovo geboren, verstört dafür mit endlos wirkenden Aufnahmen von schlecht ausgeleuchteten Innenräumen, die offenbar die verborgenen Geheimnisse in düsteren Seeleninnenräumen symbolisieren sollen.

Für alle Zuschauer, die frei von Symptomen einer depressiven Verstimmung sind und genügend Geduld mitbringen, um sich auf ein langsam, für manche quälend langsam sich entfaltendes Seelendrama einzulassen, ist die deutsch-belgische Koproduktion eine gute Wahl. „Exil“ ist auf jeden Fall ein kluger, ehrlicher Beitrag zu den Modethemen Integration und Inklusion. Der Film offenbart die Kluft zwischen gewollter und tatsächlicher Integration und wirft so, trotz der vielen dunklen Bilder, ein erhellendes Schlaglicht auf unsere Gesellschaft, in der gern mit blumigen Worten Integration postuliert und die dazu im Widerspruch stehenden Realitäten kaschiert werden.