© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/20 / 21. August 2020

„Was wird er jetzt wieder anstellen, der Christoph?“
Kino II: Die Dokumentation „Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien“ würdigt den vor zehn Jahren verstorbenen Extremkünstler
Dietmar Mehrens

Für die einen ist er nie richtig aus der Pubertät rausgekommen, für die anderen einer der bedeutendsten zeitgenössischen Künstler, der „Joseph Beuys unserer Tage“, wie der Spiegel schrieb. Die Filmemacherin Bettina Böhler hat dem exzentrischen Regie-Wunderkind Christoph Schlingensief, dessen Todestag sich am 21. August zum zehnten Mal jährt, ein filmisches Denkmal gesetzt.

Bei einem Mann, der permanent das Schrille und Extreme gesucht und gefunden hat, ist es fast zwangsläufig, daß es ein eher schlichtes Bild ist, das sich einprägt: Wir sehen den berühmten Aktionskünstler auf einer Familienfeier seiner Eltern, vermutlich einem Ehejubiläum, eine Rede halten, doch in den Gesichtern der Jubilare spiegelt sich nicht freudige Erwartung, nicht Stolz über den einzigen Sohn, der in die Welt hinausging und zumindest Teile davon erobert hat, eher Sorge. Es ist der Gesichtsausdruck von Menschen, denen die Polizei gleich eröffnen wird, daß ihr Sohn als Terrorist verhaftet werden muß. Welche Gedanken werden sie sich gemacht haben, die Eheleute Schlingensief, als dort ihr Sohn neben ihnen stand: „Was wird er jetzt wieder anstellen, der Christoph?« oder: „Hoffentlich geht das gut ...“?

Es kann nicht ganz leicht gewesen sein – das macht dieser Film deutlich –, Christoph Schlingensief großzuziehen, einen Menschen, der stets die Provokation, die Auseinandersetzung mit der ihn umgebenden Welt suchte und nie auch nur das geringste Interesse daran erkennen ließ, das zu tun, was andere von ihm erwarteten. Er mokierte sich an der linksdogmatischen Volksbühne über die CDU, legte sich später mit der FPÖ an, wurde aber, zumindest phasenweise, auch zum Feindbild von Feministinnen und Homosexuellenverbänden. 

Böhlers Film ist keine kritische Auseinandersetzung mit dem verschrobenen Künstler, eher eine Verneigung. Die Regisseurin, im Hauptberuf Cutterin, wählte dazu die Form der Collage – aus  Schlingensief-Statements, Theaterszenen, Privataufnahmen. In den O-Tönen erklärt der eloquente Exzentriker sich zumeist selbst. Aus Amateurfilmen und seinem ebenso umfangreichen Filmwerk, darunter „Mutters Maske“ (1988), „100 Jahre Adolf Hitler“ (1989) und „Das deutsche Kettensägen-Massaker“ (1990), sowie aus seiner Volksbühneninszenierung „Atta Atta – Die Kunst ist ausgebrochen“ (2003) sind Ausschnitte zu sehen. Das alles fügt sich zusammen zu einem Kaleidoskop des Schlingensiefschen Schaffens und seines Blicks auf die Welt.

Er visualisierte seine Kämpfe für die Außenwelt

„Bei allem, was ich mache, ist Angst als Boden da“, lautet eine der Aussagen des facettenreichen Faktotums über sich selbst. An anderer Stelle verrät er, daß er immer habe kämpfen müssen, um seinen Eltern zu zeigen, daß alles in Ordnung ist. Das habe sich vielleicht irgendwann aufs Immunsystem ausgewirkt. Ein Erklärungsversuch des früh Verstorbenen für seine Krankheit. Im Grunde aber war seine gesamte Existenz ein Kampf und seine wahnhafte, immer verstörende Kunst dessen Visualisierung für die Außenwelt. Auch seinen Kampf gegen den Lungenkrebs nahm er aus dieser Visualisierung nicht aus. In seinem Krebstagebuch „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!“ (2009) gab er einem großen Lesepublikum Auskunft über sein Ringen mit dem Tod. Daß ihn der von ihm mit Leidenschaft befehdete Helmut Kohl, den er in dem Aktionskunstspektakel „Tötet Helmut Kohl“ (1996) symbolisch enthaupten ließ, am Ende um sieben Jahre überlebte, wirkt wie eine ironische Fußnote seiner Biographie.

„Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien“ läßt das Enfant terrible der darstellenden Kunst für seine Freunde wieder aufleben. Und für alle anderen ist der Film eine wunderbare Möglichkeit, das Werk dieses zu Lebzeiten nie versiegenden Kreativbrunnens in einer übersichtlichen Gesamtschau kennenzulernen.