© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/20 / 21. August 2020

Erinnerungskultur ohne Erinnerung und Kultur
Großmannssucht und Wissenslücken: Das Hamburger Bismarck-Denkmal aus der Perspektive von Geschichtsblinden
Oliver Busch

Der vor dem Hintergrund der „Black Lives Matter“-Hysterie eskalierte  Streit um das 1906 eingeweihte, über dem Hamburger Hafen thronende Bismarck-Denkmal Hugo Lederers (JF 28/20) hat vor allem eins enthüllt: die erschütternde Unfähigkeit unserer „Zivilgesellschaft“, sich Vergangenheit auch nur ansatzweise vorstellen zu können. Das ist ein Symptom des rasanten Verfalls historischen Bewußtseins, an dessen Ende sich die Bundesrepublik von Deutschland befreit haben wird. 

An der Spitze der aggressiven Hamburger Hysteriker steht Ulrich Hentschel, der dafür ficht, die laufende Sanierung zu beenden, die „Monumentalität“ der Statue zu brechen, zu diesem Zweck den Kopf des Reichskanzlers abzumontieren und neben das Denkmal zu legen. Hentschel, Jahrgang 1950, Pastorensohn, in den 1970ern als Theologiestudent tief eingetaucht in die linksprotestantische Szene, und 1981 als Pastor in Rellingen wegen „friedensbewegter“ Aktivitäten suspendiert, hält sich für kompetent, um über deutsche Geschichte dozieren zu dürfen. Schließlich war er von 2010 bis 2015 Studienleiter für „Erinnerungskultur“ an der Evangelischen Akademie der Nordkirche. Stets an der Tête, wenn es um gedächtnispolitische Bewältigung der „Nazizeit“ ging. Erfüllt vom Ungeist eines Hannes Heer, dem Leiter der berüchtigten Reemtsma-Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ (1995), der auch am Symposion zu Hentschels Verabschiedung als Studienleiter teilnahm. 

Peinlich nur, daß der Alt-68er während des Denkmal-Disputs generationstypische Wissenslücken offenbarte. Seine eigene Erinnerung wird jedenfalls noch erheblich kultivieren müssen, wer in der Hamburger Morgenpost (Ausgabe vom 2. Juli 2020) behauptet, Bismarck habe nicht nur „Herrschaftsansprüche und 1871 die Gründung des Deutschen Reiches“ gegen „Polen“ durchgesetzt, sondern auch gegen das „katholische Nachbarland Polen“ in den 1870ern seinen „Kulturkampf“ geführt. Pech für den Hobby-Historiker, daß dieses Nachbarland als selbständiger Staat erst 1918 wieder erstand und der Kulturkampf sich gegen deutsche Zentrumskatholiken sowie den polnischen Klerus in den preußischen Provinzen Posen und Westpreußen richtete.

Nur wenn das Niveau von Geschichtsdebatten so tief abgerutscht ist wie heute, haben Desorientierte wie Hentschel eine Chance, daran teilnehmen zu können. Und noch dümmere Claqueure zu finden wie etwa Markus Lorenz, für den das Denkmal ein „Mahnmal für Großmannssucht im Deutschen Reich“ und eine „Huldigung der Hamburger an einen Antidemokraten“ ist (Schleswig-Holsteinische Landeszeitung vom 14.  Juli 2020). Offensichtlich überschreitet den Horizont des in der postnationalen Bundesrepublik aufgewachsenen Journalisten Lorenz, was für den Breslauer Kunsthistoriker Richard Muther (1860–1909), der Bismarck-Denkmäler haßte, nur das Hamburger nicht, eine politische Naturtatsache war: der Zwang zur Selbstbehauptung, um die Freiheit der Nation zu bewahren. Ein Zeitalter, das von diesem wehrhaften Geist erfüllt war, verkörperte sich für Muther im Hamburger Bismarck-Roland, mit eisernem Panzer und großem Zweihänder. Im Zeitalter deutscher Selbstabschaffung heißt das nun „Großmannssucht“.