© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/20 / 21. August 2020

Es war der Westen, der Hitler faszinierte
Der britische Historiker Brendan Simms über die Affinität des Diktators zu England und den USA
Eberhard Straub

Brendan Simms fügte 2014 der deutschen Ausgabe seines Buches „Der Kampf um die Vorherrschaft“ den Untertitel hinzu: „Eine deutsche Geschichte Europas von 1453 bis heute“. Alle Ordnungssysteme und Friedensverträge in diesem Zeitraum hatten es vor allem mit der Mitte Europas in seiner wechselnden Gestalt zu tun. Deutsche Geschichte war nie auf ein vages Deutschland beschränkt. Erst die westdeutsche Bundesrepublik nannte sich 1949 überhaupt nach Deutschland. Die Katastrophe des Großdeutschen Reichs und seines Gründers Adolf Hitler hatte die deutsche Frage nicht ein für allemal erledigt. Sie besteht weiter. 

2014 verzichtete der Historiker aus Cambridge vernünftigerweise auf Prognosen, wie die Europäische Union aus  ihren Krisen, die viel mit der Rolle der Bundesrepublik Deutschland in Europa und in der Nato zu tun haben, herausfinden wird oder ob dieses für viele Europäer allzu deutsch gewordene  Europa gerade wegen eines deutschen Übergewichts zerbricht oder zu anderen Organisationsformen finden wird. Adolf Hitler ist weiterhin trotz seines Scheiterns gegenwärtig. Das immer noch geteilte Eu-ropa von Gibraltar bis zum Ural und mitten in ihm Deutschland sind im Sinne Goethes „problematische Naturen“, die ihrer Lage nicht recht gewachsen sind.

Ziel war deutsche Variation des amerikanischen Traums

Insofern liegt es für Brendan Simms nahe, sich abermals mit Hitler zu beschäftigen. Der Leser seiner fulminanten Studie „Hitler. Eine globale Biographie“ sollte aber auch das frühere Buch über die Vorherrschaft in Europa unbedingt aufmerksam studieren; denn Hitler und seine Überlegungen zur Zukunft der Deutschen im einigen Europa unter deutscher Führung gehören in einen historisch erweiterten europäischen Zusammenhang. Brendan Simms ist einer der besten Kenner der gesamten deutschen Geschichte oder Geschichten. Die Geschichte Europas ist ein nicht abgeschlossener Kampf um Deutschland.  

Der Politiker Adolf Hitler ist, wie Brendan Simms schildert, das Ergebnis einer Friedenszeit ab 1919, die höchstens ein vorläufiger Waffenstillstand war. Fast alle Besiegten, aber auch eine Siegermacht wie Italien, strebten von vornherein nach einer Revision der Pariser Vorortverträge. Die Westalliierten hatten sich als unfähig erwiesen, in alteuropäischer Tradition eine umfassende Friedensordnung herzustellen. Hitler, bislang politisch unauffällig, empfand den Vertrag von Versailles – gar nicht besonders originell unter seinen Zeitgenossen – als eine tiefe Demütigung der Deutschen. Ihnen war, was auch Republikaner enttäuschte, zum ersten Mal in ihrer langen Geschichte mitten in Europa die selbstverständliche Gleichberechtigung abgesprochen worden. Hitler sah die Deutschen in einen Zustand versetzt, der bislang höchstens Kolonialvölkern zugemutet worden war. Der unpolitische Einzelgänger, der sich vorzugsweise mit Kunst und Stadtplanung beschäftigt und sich in beiden Gebieten ordentliche Kenntnisse  angeeignet hatte, ließ sich – ähnlich vielen anderen verbitterten oder enttäuschten Deutschen – in München politisieren und radikalisieren. 

Im Bayern der Nachkriegszeit fürchtete er nicht so sehr den Sozialismus und  Bolschewismus, sondern den Partikularismus oder Separatismus der katholischen, königstreuen und bayerisch-patriotischen Eliten. Das Königshaus, der Adel und die Kirche – internationale Kräfte  – waren ihm verdächtig wie sämtliche Mächte des Internationalismus, die sich verschworen hatten, die Deutschen als Kriegsschuldige, Kriegsverbrecher und Feinde der Freiheit sowie der Demokratie aus der Gemeinschaft der gesitteten Menschen auszuschließen: also der Kapitalismus, das „Weltjudentum“ als dessen großer Beweger, und „die Angelsachsen“, Engländer und Amerikaner, untrennbar mit den beiden anderen verbunden. 

Den Bolschewismus, international ausgerichtet, betrachtete er nicht als ernstzunehmenden Feind, da den übrigen Internationalismen verwandt, die sich seiner, wenn nötig, bedienen könnten in ihrer Auseinandersetzung mit den Deutschen. Rassische Vorurteile  gegenüber Slawen oder Russen kannte Hitler kaum. Er sah in ihnen durch den Krieg geschwächte Gegner, die sich leicht überwinden ließen im Kampf der Deutschen um den für sie angemessenen Lebensraum, den Hitler nicht in Polen, vielmehr in der Ukraine und am Kaukasus gewinnen wollte. 

Dieser Großraum galt ihm als die Voraussetzung dafür, daß die Deutschen wieder zur Großmacht würden, um im Wettbewerb mit den USA und Großbritannien als ein unersetzlicher Teil des Mächtesystems anerkannt zu werden. Es war gar kein deutscher Drang nach Osten, der ihn bei solchen Überlegungen leitete. Er folgte vielmehr dem bewunderten Vorbild der USA, die sich im 19. Jahrhundert ohne Rücksicht auf die Ureinwohner eines keineswegs leeren Raumes vom Atlantik bis zum Pazifik bemächtigten, sowie dem Beispiel der Briten, die geneigt waren, die Gesamtheit der Welt als Interventionsraum aufzufassen, je nach der Situation in der stets beweglichen Geschichte. In den weißen, germanischen, protestantischen Angelsachsen schätzte er die dynamischen Wandler der Welt, denen die Deutschen sich angleichen müßten.  

Es war der Westen, der ihn faszinierte, und die deutsche Zukunft bestand für ihn darin, sich zu verwestlichen oder gar den Westen zu übertrumpfen. Aus den Deutschen sollte ein Volk wie die US-Amerikaner werden, ein Volk von gut verdienenden Arbeitern und Kleinbauern, von Konsumenten und Verkehrsteilnehmern, die im Einfamilienhaus mit Garten lebten, gleiche Bildungschancen zugeteilt bekamen und in der Freizeit gut gemachte Filme oder prächtig ausgestatte Revuen besuchen konnten. 

Hamburg als das Tor zur Welt sollte wie New York von deutscher Energie und Phantasie künden, sämtliche Städte mußten aus ihrer historischen Provinzialität befreit werden. Das VW-Werk und Wolfsburg waren gedacht als deutsche Variation des amerikanischen Traums – die Mischung von Tempo, Effizienz, Moderne und Hygiene. Hitler schwärmte nicht für Butzenscheiben und Gemütlichkeit oder gar für Heimatstil und Fachwerk. Er orientierte sich am alten Rom und am Florenz der Renaissance, am internationalen Klassizismus, der ja auch den von den USA propagierten internationalen Style beeinflußte. 

Das Internationale lehnte Hitler nicht grundsätzlich ab, wenn es sich nationalen Bedingungen anschmiegte. Ein nationaler Kapitalismus, ein schaffender, im Gegensatz zum raffenden, war erwünscht, nicht zuletzt um die Deutschen zu modernisieren und den Angelsachsen anzunähern. Um dieses Ziel zu erreichen, war eines erforderlich, nämlich nach Ansicht von Hitler die rassisch heruntergekommenen, ängstlichen, vorsichtigen Deutschen zu einem unbefangenen Herrenvolk zu bilden wie die germanischen Engländer und Amerikaner. Aus den Deutschen mußten überhaupt erst wieder Germanen und Arier gemacht werden. Hitler war sich gar nicht sicher, ob ihm das gelingen würde. Es genügte ihm gar nicht, Juden aus Deutschland zu entfernen. Die rassisch so fragwürdigen Deutschen mit einem kleiner werdenden arischen Anteil bedurften einer biologischen Aufrüstung, die Generationen in Anspruch nehmen würde. Auch hier beachtete Hitler aufmerksam die amerikanischen Pläne zur Rasseverbesserung und zur Beschränkung der Einwanderung. Der Antisemitismus war ohnehin eine westliche Bewegung, wie er bei dem gründlichsten Historiker des Rassegedankens – Ludwig Schemann – lesen konnte. 

Hitler wollte Freundschaft zu Westen erzwingen

Seine Politik zur „Lösung der Judenfrage“ war unmittelbar mit seiner Außen- und späteren Kriegspolitik verbunden. Hitler wollte möglichst eine Verständigung mit „den Angelsachsen“. Diese lehnten aber sehr bald wegen der Diskriminierung der Juden eine Verständigung ab, was Hitler mit einer seit 1938 sich immer weiter verschärfenden Diskriminierung beantwortete. Er ließ Engländer und US-Amerikaner ab 1938 nicht im unklaren, daß ihre wachsende Ungeduld mit dem nationalsozialistischen Reich ihn dazu zwinge, irgendwann die Juden im Reich oder während des Krieges im Osten auszurotten. Da sie sich jedem Kompromiß verweigerten, machte er sie – trotz ihrer Proteste – auf seine Art zu Komplizen. Die Juden waren Geiseln für ihn, sie gehörten zur Verhandlungsmasse eines Sozialdarwinisten. Hitler sah sich deshalb nie im Gegensatz  zum Westen. Sein Krieg in der Sowjetunion unterschied sich seiner Meinung nach nicht von den brutalen Kolonialkriegen der angelsächsischen Menschenfreunde und westlichen Demokraten. 

Er dachte an einen Großraum mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte, wie es die US-Amerikaner mit ihrer Monroedoktrin 1823 für die beiden Amerikas verkündet hatten, aber nicht an die Weltherrschaft. Auch während des Krieges war er mit dem wahren Feind unablässig beschäftigt, mit den USA vor allem, mit dem Westen insgesamt, den er doch zum Freund haben wollte. Hitler gehört in die fatale Geschichte der deutschen Anglomanie und „Westbindung“ seit dem frühen 19. Jahrhundert. Führt die Bundesrepublik – das Produkt der „angelsächsischen“ Sieger – die Europäer abermals in die Katastrophe? Hitler verwarf eine Euro-Mark, die gelegentlich erwogen wurde für ein Europa unter deutscher Führung, als  unsinnig und geschichtswidrig, worauf Brendan Simms hinweist. 

Die deutschen Enthusiasten einer westlichen und westeuropäischen Wertegemeinschaft warnen mit dramatischer Lautstärke davor, daß ohne den Euro, ohne die Euro-Mark, das Projekt „Europa“ scheitern würde. Damit stehen sie ziemlich allein! Was macht man mit diesen unberechenbaren Deutschen, die immer nur westlich sein wollen und schrecklich weltfremd bleiben, weil sie weder sich noch Europa kennen? Brendan Simms hält sich zurück und gibt als Historiker darauf keine Antwort. Er gibt allerdings zu verstehen, daß Deutsche, die keine Deutschen sein wollen, deswegen keineswegs Europäer sind und weiter beunruhigend in Deutschland und in  Europa wirken.

Brendan Simms: Hitler. Eine globale Biographie. Deutsche Verlags- Anstalt, München 2020, gebunden, 1.050 Seiten, 44 Euro