© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/20 / 21. August 2020

Modischer Schattenspender
Flechtkunst: Der Strohhut ist zum Trendaccessoire des Sommers geworden
Paul Leonhard

Schattenspendende und den Kopf kühlende Strohhüte sind allgegenwärtig. Männer tragen sie auf der Straße und im Garten, Frauen beim Einkaufen, am Strand und auf dem Damenfahrrad. Kinder drehen sich in ihnen vor dem Schaufenster, in deren Auslagen sie überall liegen: zeitlos, klassisch und doch modern, vor allem aber praktisch. Selbst in den Wühltischen der Discounter sind sie zu finden. Und sie lassen sich mit den obligatorischen Schutztüchern wunderbar kombinieren.

Damit sind sie neben eckigen Sonnenbrillen das Accessoire des Sommers 2020, und sie erinnern an vergangene Zeiten, an Urlaube an Traumstränden, an schlanke Palmen, goldfarbenen feinen Strand und die Unendlichkeit des azurfarbenen Meeres. An Orte, an denen man es am Tag der Ankunft noch albern fand, mit welch seltsamen, aus Naturfasern geflochtenen Kopfbedeckungen die anderen herumliefen, am zweiten und dritten interessiert einem Einheimischen zusah, wie dieser Dutzende von Fasern zu einem Hut formte, um schließlich selbst einen zu erwerben und am letzten Urlaubstag noch weitere Exemplare für die Daheimgebliebenen als kleines Geschenk mitzunehmen. 

Getragen wurden sie allerdings, so man sie heil durch Grenzkontrollen und Gepäckablagefächer brachte, in den wenigsten Fällen. Oder haben Sie in ihrer städtischen Fußgängerzone oder am Nord- bzw. Ostseestrand jemanden mit einem sattgrünen Bananenfaserhut auf dem Kopf gesehen? Als unpraktisch und damit für Europa untragbar erwiesen sich auch die riesigen Sombreros der mexikanischen Mariachi. Die Lehre: Jegliches hat seine Zeit und seinen Ort. Während Männer auf klassische Hutformen Wert legen, mögen es Frauen extravagant. Das wurde bereits vor zwei Jahren deutlich, als Jacquemus’ „La Bomba“-Strohhut mit übergroßem Rand als letzter Schrei galt.  Dabei soll der Strohhut ursprünglich ganz praktisch vor der Sonne und ihrer UV-Strahlung schützen. Aber setzt man ihn auf, stellt sich automatisch ein Ferien- und Freiheitsgefühl ein, egal ob bei der Gartenarbeit oder beim Flanieren.

Der größte Hut der Welt liegt in Niedersachsen

Und trifft man auf einen anderen Strohhutträger, möchte man unwillkürlich grüßen und das Haupt lüften. Aber genau davor sei gewarnt. Sonnenhüte vertragen es nicht. Die Krone könnte irgendwann brechen. Das wußten schon die Großväter, weswegen sie die Hüte mit beiden Händen auf- und absetzten und sie in der kalten Jahreszeit in speziellen Schachteln aufbewahrten, wobei der eine oder andere in Vergessenheit geriet, die Zeiten überdauerte und Opas Hut so heute die Enkel erfreut.

Vor 100 Jahren war die „Kreissäge“ Mode. So wurde despektierlich der kleine runde Florentiner Strohhut wegen seiner Kreisform und des gezackten Randes in Deutschland bezeichnet, der inzwischen zu den zeitlosen Kleidungsstücken zählt. In Großbritannien trat die den Seeleuten abgeschaute Kopfbedeckung als „Boater“, in Frankreich als „Canotier“ oder „Matelot“ ihren Siegeszug an. Die Damen reagierten mit einem flachen, breitkrempigen Sommerhut, dem Florentiner, der in den 1930er bis 1950er Jahren gern getragen wurde, wie viele Spielfilme aus jener Zeit zeigen.

Auch der größte Strohhut der Welt ist einer vom Typ „Kreissäge“. In zwanzigfacher Vergrößerung, was einen Durchmesser von 5,5 Metern bedeutet, ist er im Guinness-Buch der Rekorde verzeichnet und im Museum der Strohverarbeitung in Twistringen zu bewundern. In dem niedersächsischen Ort – auch wenn Lindenberg im Allgäu als das Zentrum der deutschen Strohhutindustrie gilt und ebenfalls mit einem Museum lockt – existierte bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine florierende Strohhutindustrie. 

Überhaupt können sächsische Strohhutträger auf eine ununterbrochene Tradition verweisen, denn der Stamm der Sachsen wird seit dem 10. Jahrhundert mit dieser Kopfbedeckung verbunden. Andere Völker, andere Sitten – besonders augenfällig ist das bei den Kopfbedeckungen: Blätter und Halme von Ölpflanzen, Getreidehülsen und Faserpflanzen waren überall vorhanden und die nötigen Kniffe, um aus ihnen Kopfbedeckungen zu formen, schnell erlernt. In Vietnam entstand so der für das Land typische Kegelhut, in Westafrika der konische Fulbehut.

Nicht jede überlieferte geographische Angabe ist dabei exakt. Der durch US-Präsident Theodore Roosevelt 1906 bekannt gewordene Panamahut – gerühmt für sein sehr leichtes Gewicht, besonders hohen Tragekomfort und nachgewiesene Kühlfunktion – stammt ursprünglich aus Ecudaor. Sein feines Gewebe und den hellen Farbton verdankt er der Strohsorte Paja Toquilla.

Längst bieten wohl alle bekannten Marken – von Barts und Borsalino, über Mayser bis Seeberger und Stetson – Strohhüte in diversen Designs an. Die Preisspannen reichen von wenigen Euro bis zu 2.000 Euro. Längst sind die Hüte auch nicht mehr weiß, gelb oder grau; wer auffallen will, entscheidet sich für knallige Grün-, Rot- oder Pinktöne oder gar mehrfarbige Hüte in ungewöhnlichen Formen. Ob diese auch bei anderen ankommen, kann beispielsweise in Frankenthal in der Pfalz getestet werden. Auf der Internetseite der Stadt werden schon die Tage und Stunden bis zum Strohhutfest 2021 gezählt. Dann wird die „Miss Strohhut“ gekürt.