© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/20 / 21. August 2020

Der Flaneur
Es fällt die Blüte
Paul Leonhard

Gelbe, weiße, violette Blüten recken sich aus dem Grün des Randstreifens. Gänseblümchen, Löwenzahn, Butterblume, Klee, kleine Blüten einiger mir namentlich unbekannter Gräser. Insekten umwerben sie, fliegen hastig von Kelch zu Kelch. Dabei haben sie doch alle Zeit der Welt. Am höchsten hat sich eine einzelne Mohnblüte gewagt und wurde dafür vom Wind zerzaust.

Nebenan ist die Waschanlage wieder zum Leben erwacht. Die Nachfrage ist groß. Mehrere Autos stauen sich auf der Zufahrt. Der Betreiber offeriert ein halbes Dutzend Reinigungsprogramme und wer findet, daß das Auto seines Nachbarn oder eines Bekannten zu schmutzig ist, könnte gar einen Geschenkgutschein über eine Wagenwäsche erwerben. 

So ein Geschenk ist doch vergiftet, vermute ich. Wer läßt sich schon gern von einem anderen vorwerfen, das eigene Auto sei zu schmutzig.

Mit der rot-orangenen Mohnblume hat der folgende Gärtner kein Erbarmen.

Ich werde abgelenkt. Nebenan fahren plötzlich mehrere Kleintransporter vor. Männer in schwarzen Overalls und schwarzen Arbeitshandschuhen laden Maschinen aus, werfen Motoren an, die anfangen zu knattern und Abgaswolken auszustoßen. Dann verteilen sich die Mitarbeiter eines Gartenbaubetriebes über das Gelände und beginnen ihre Arbeit.

Die Rasenmäher rücken dem Grün zu Leibe, säbeln es fast an der Wurzel ab. Nur mit der einzelnen Mohnblume scheint der Gärtner hinter der Maschine ein Einsehen zu haben, er umfährt kühn das leuchtende Rot-Orange. Diese Sensibilität kennt sein Kompagnon mit der Motorheckensäge nicht. Er fällt auch diese Blüte, deren Blätter sich auf dem Asphalt verteilen und bald davongeweht werden.

Als die Männer ihre Maschinen wieder abstellen und verladen, bestimmt braune und graue Erde den Randstreifen um die Hallen und Häuser, ein wenig Grün sprießt noch. Vom Rasen verborgene Zigarettenkippen sind wieder zum Vorschein gekommen. Nur, daß sich an diesen niemand erfreut.