© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/20 / 28. August 2020

„Darauf dürfen wir stolz sein“
Vor 150 Jahren gelang mit dem Sieg bei Sedan der Durchbruch zur deutschen Einheit und die Schaffung des Nationalstaats der Deutschen – in dem wir heute noch leben
Moritz Schwarz

Herr Professor Kraus, jeder kennt die Berliner Siegessäule, aber kaum jemand weiß, woran sie erinnert.

Hans-Christof Kraus: Das ist auch meine Erfahrung – außer unter Kollegen natürlich.

Woran erinnert sie?

Kraus: An die drei deutschen Einigungskriege: den Deutsch-Dänischen Krieg um Schleswig-Holstein 1864, den Deutsch-Deutschen Krieg zwischen Preußen und Österreich 1866 und den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71.

Letzterer fand vor 150 Jahren im französischen Sedan seine Entscheidung. Was hat es mit diesem „Sedanstag“ auf sich?

Kraus: Das war der sich später daraus entwickelnde Gedenktag, der im Kaiserreich begangen wurde. Da in der Schlacht bei Sedan – eine Kleinstadt in den französischen Ardennen, die selbst heute gerade einmal 16.000 Einwohner hat – am 1. und 2. September 1870 der Krieg entschieden wurde.

War der Sedanstag der erste deutsche Nationalfeiertag?

Kraus: Weder wurde er je offizieller Feiertag, noch gab es im Kaiserreich überhaupt einen einheitlichen Nationalfeiertag. Der Sedanstag war einer der drei bedeutenden nationalen Gedenktage,  neben „Kaisers Geburtstag“ und dem Jahrestag der Kaiserproklamation, dem 18. Januar, der als der Reichsgründungstag galt. Obwohl die Reichsverfassung tatsächlich schon am 1. Januar 1871 in Kraft getreten war. Zudem stand der Kaiser seiner verfassungsrechtlichen Stellung nach nicht über den anderen deutschen Fürsten, sondern war nur „Erster unter Gleichen“. Und es gab natürlich auch in den außerpreußischen Bundesstaaten eigene Feiertage, da die dort regierenden Fürsten ihre eigenen Geburtstage ebenfalls feiern ließen.

Warum war der Sedanstag so entscheidend?

Kraus: Zum einen wegen des militärischen Triumphs über 130.000 französische Soldaten, der knappen Hälfte der französischen Streitmacht. Vor allem aber weil es gelang, den französischen Kaiser Napoleon III. gefangenzunehmen; wenige Tage später schon kollabierte das zweite französische Kaiserreich.

Warum heißt es Krieg von „70/71“, wenn der Sieg doch schon 1870 errungen war?

Kraus: Weil zwei Tage nach Sedan in Paris die Dritte Republik entstand, deren Regierung meinte, nur Napoleon III., nicht aber Frankreich sei besiegt. Tatsächlich hatte das Land noch erhebliche Reserven, und es gab bis Januar noch etliche Kämpfe. Doch die Franzosen konnten das Blatt nicht mehr wenden. Der Krieg endete nach längeren Waffenstillstandsverhandlungen am 31. Januar 1871. Der Friedensvertrag wurde am 10. Mai in Frankfurt am Main geschlossen.

Heute erinnert sich trotz Siegessäule kaum noch jemand an diesen Krieg. Zu Recht?

Kraus: Nein, denn er brachte ein entscheidendes Ergebnis: die politische Einigung Deutschlands. Als ich jung war, vor fünfzig Jahren, war zumindest den Älteren die Bedeutung von „70/71“ noch klar.

Warum führte ein Krieg gegen Frankreich zur Einigung Deutschlands?

Kraus: Weil Frankreich damals auch eine kleindeutsche Einigung unter Führung Preußens zu verhindern versuchte. Der östliche Nachbar sollte politisch nicht zu stark werden, da man darin eine Gefährdung seiner Sicherheit sah.

Hätte Frankreich denn bei einer friedlichen deutschen Einigung angegriffen?

Kraus: Das ist eine stark spekulative Frage. Jedenfalls hatte der französische Kaiser 1866 bei der Vermittlung des Prager Friedensvertrags zwischen Preußen und Österreich durchgesetzt, daß die deutschen Staaten südlich der Mainlinie, also Bayern, Württemberg, Baden und Südhessen, dem von Preußen angeführten, neugebildeten Norddeutschen Bund nicht beitreten durften. Eine friedliche Einigung Deutschlands – sprich einen Beitritt der süddeutschen Staaten zum Norddeutschen Bund – hätte Frankreich als eklatante Vertragsverletzung auffassen und zumindest mit einer Kriegsdrohung beantworten können.

Frankreich gestand Deutschland also nicht zu, was es in der Französischen Revolution als Prinzip verkündet hatte und für sich in Anspruch nahm, die Einheit der Nation?

Kraus: Hier ist zu fragen: Worin bestanden denn die Grenzen der – damaligen – deutschen Nation? Umfaßten sie die Außengrenzen des Deutschen Bundes, die den Osten Preußens und die außerdeutschen habsburgischen Lande ausschlossen? Oder umfaßten sie alles, also die beiden deutschen Großmächte komplett und dazu alle anderen deutschen Mittel- und Kleinstaaten? Ein solches Riesenreich wäre fraglos eine große Belastung für das europäische Mächtegleichgewicht gewesen. Daß die Franzosen skeptisch waren, ist verständlich.

Dann mußte Frankreich, sollte wenigstens eine kleindeutsche Einigung erreicht werden, also ausgeschaltet werden?

Kraus: Ich will es vorsichtiger formulieren: Frankreich mußte in der Tat dazu gebracht werden, seinen Widerstand gegen eine kleindeutsche Einigung – also Norddeutscher Bund plus süddeutsche Staaten – aufzugeben.

Ein Krieg war allerdings auch nötig, um die Widerstände in den süddeutschen Staaten zu überwinden.

Kraus: Das stimmt, denn diese waren in sich gespalten. Die politischen und wirtschaftlichen Eliten waren zwar mehrheitlich für einen deutschen Nationalstaat, die Könige etwa von Württemberg oder Bayern dagegen nicht. Der Krieg und der Sieg bei Sedan lösten jedoch eine Welle nationaler Begeisterung in ganz Deutschland aus, die half, diese Widerstände zu überwinden. So konnte am Ende der preußische König Wilhelm I. schließlich am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Schlosses Versailles von den versammelten deutschen Fürsten zum „Deutschen Kaiser“ proklamiert werden.

„Unverschämte Kränkung der Ehre Preußens“

Den Krieg hatte Frankreich am 19. Juli erklärt und am 2. August mit der Besetzung Saarbrückens eröffnet. Heute wird er dennoch meist als eine Intrige Bismarcks zur Erreichung der deutschen Einheit unter Preußens Führung dargestellt. Warum?  

Kraus: Der Krieg entzündete sich als Folge einer diplomatischen Krise, die damit begann, daß der spanische Thron vakant war. Die Regierung in Madrid suchte einen geeigneten König und bot den Titel einem Prinzen aus der katholischen Nebenlinie des Hauses Hohenzollern an. Das allerdings löste in Frankreich Alarm aus, denn man befürchtete zwischen zwei von Hohenzollernmonarchen geführten Mächten eingezwängt zu werden. Zwar gaben die Hohenzollern mit Rücksicht auf den Protest aus Frankreich die Sache schon bald auf, doch Paris reichte das nicht und es forderte vom König von Preußen eine zusätzliche Garantieerklärung dafür, daß auch künftig kein Hohenzoller Spaniens Thron besteigen werde. Damit aber war der erst vor kurzem ins Amt gekommene, politisch unerfahrene Pariser Außenminister Agénor de Gramont zu weit gegangen. Eine aus damaliger Sicht derart unverschämte, die Ehre Preußens und des Hauses Hohenzollern massiv kränkende Forderung verbat sich Wilhelm I. – und hierüber war man in Paris wiederum brüskiert. Dort forderten Tausende Demonstranten den Krieg. Das Parlament bewilligte das nötige Budget und Frankreich erklärte Preußen diesen.

Allerdings soll Bismarck die Franzosen mit der „Emser Depesche“ hereingelegt haben.

Kraus: In dieser Depesche hatte Wilhelm I. seinem Ministerpräsidenten Otto von Bismarck berichten lassen, daß der französische Botschafter Graf Benedetti ihn während eines Spaziergangs in Bad Ems, wo er zur Kur weilte, öffentlich abgepaßt hatte, um besagte Verzichtsgarantie von ihm einzufordern – die er abgelehnt habe. Bismarck veröffentlichte die Depesche dann in gekürzter Form, wodurch sich Wilhelms Ablehnung wesentlich brüsker anhörte, als sie in Wirklichkeit gewesen war. Das reizte die Franzosen, die sich nun erst recht in ihrer nationalen Ehre angegriffen sahen.

Also war Bismarck doch ein Kriegstreiber?

Kraus: Nein, wenn er auch einen Krieg in Kauf nahm. Aber das Verhalten Benedettis stellte eine Beleidigung Preußens dar, die man nach den Vorstellungen der Zeit nicht ohne entschiedene Gegenreaktion lassen konnte. Genau dafür hat Bismarck gesorgt, indem er, durch seine Umformulierung der Depesche, der preußischen Absage die nötige Schärfe verlieh.

Frankreich galt damals als Vormacht. Warum gelang dieser nicht, auch nur eine der knapp dreißig wichtigen Schlachten und Belagerungen des Krieges zu gewinnen? Wobei drei unentschieden endeten.

Kraus: Vor allem das gut ausgebaute preußische Eisenbahnwesen machte einen Unterschied, während es die französische Armee kaum vermochte, die Ausrüstung rechtzeitig zu Kriegsbeginn zu den Truppen zu bringen. Waffentechnisch gleichrangig, war Preußen, das die verbündeten Heere der deutschen Staaten anführte, jedoch logistisch, taktisch und strategisch überlegen. Allerdings hatte man gelegentlich auch einfach nur Glück.

Gerne wird der Erfolg auf die überlegene Planung des genialen preußischen Generals Helmuth von Moltke zurückgeführt, die ermöglichte, daß der deutsche Aufmarsch präzise wie ein Uhrwerk ablief.

Kraus: Moltke war zweifellos ein genialer Stratege, doch es gab, wie man heute weiß, auch vieles, was auf deutscher Seite weniger gut klappte. Vor allem die Zusammenarbeit zwischen militärischem Kommando und politischer Führung.

Bismarck wollte den Krieg vergleichsweise milde führen – so sprach er sich etwa gegen die von Moltke vorgenommene Beschießung des belagerten Paris aus – und den Frieden ebenso gestalten. Warum?

Kraus: Weil er einen stabilen Frieden wollte, und dafür brauchte es Bedingungen, mit denen Frankreich würde leben können. So war er ja schon 1866 mit dem besiegten Österreich verfahren. Deshalb hegte er anfänglich auch Bedenken gegen eine Annexion Elsaß-Lothringens, das später zum Zankapfel zwischen Deutschland und Frankreich wurde. Als er jedoch sah, daß die Forderung danach in Deutschland zu laut wurde, schlug er vor, sich bei einer Angliederung strikt an die beiderseitigen Sprachgrenzen zu halten. Am Ende setzten sich hier allerdings die Militärs durch, die großen Wert auf die Annexion der französischen Festungen im Nordwesten Lothringens, vor allem Metz, und der dortigen Eisenerzgruben legten. Allerdings muß man hierbei auch bedenken, daß vielen damals lebenden Deutschen die über ein Dutzend Raub-, Verwüstungs- und Eroberungszüge der Franzosen in den deutschen Westprovinzen von Ludwig XIV. bis zu Napoleon im kollektiven Gedächtnis noch präsent waren, ebenso wie der Raub der alten deutschen Reichsstadt Straßburg im Jahr 1681 durch die Franzosen.

Muß man nicht kritisieren, daß der Krieg die Chance zerstörte, die deutsche Einigung inklusive Österreichs zu erreichen?

Kraus: Das war schon mit der Niederlage 1866 geschehen. Zudem war der Versuch einer deutschen Einigung unter Einschluß Österreichs bereits 1849/50 am Einspruch vor allem Rußlands gescheitert. Letztlich wollten die anderen europäischen Mächte kein neues Riesenreich in Zentraleuropa von der Nordsee bis zur Adria mit siebzig Millionen Einwohnern dulden. Richtig aber ist, daß ursprünglich Österreich, nicht Preußen „die“ deutsche Führungsmacht war. Es hatte im alten deutschen Reich die meisten Kaiser gestellt und trug diesen Titel bis zu dessen Auflösung durch Napoleon im Jahr 1806. Und auch in dessen Nachfolger, dem Deutschen Bund, führte es seit 1815 den Vorsitz. So wollte man in Wien eine Gleichberechtigung der vergleichsweise jungen Macht Preußen auch nicht anerkennen, was ein Hauptgrund für den Krieg von 1866 gewesen war.

Hätte es gewonnen, hätte dann Österreich die Deutschen in den Krieg gegen Frankreich geführt und wäre Wien heute unsere Hauptstadt und Preußen ein neutraler Randstaat wie nun Österreich?

Kraus: Nein, da Österreich gar kein Interesse hatte, einen deutschen Nationalstaat zu gründen. Für das Habsburgerreich stand der innere Ausgleich zwischen den einzelnen Völkern der Monarchie, vor allem der mit den Ungarn, im Vordergrund. In Wien hätte man in Deutschland am liebsten alles so gelassen, wie es seit 1815 gewesen war. Bestenfalls hätte man ein paar kosmetische Reförmchen am Bund akzeptiert. Seit den Tagen des Fürsten Metternich hatte man die deutsche Nationalbewegung stets entschieden bekämpft.

Schuf der Krieg nicht auch die Basis für den wirtschaftlichen Aufschwung Deutschlands und Wohlstand ohnegleichen?

Kraus: Der wirtschaftliche „take-off“, wie man sagt, hatte schon etwa 1850 begonnen. Aber der weitere Aufstieg zu einer wirtschaftlichen Weltmacht, also die ökonomische, technische, wissenschaftliche und soziale Entwicklung, die Deutschland ab 1871 nahm, wäre ohne die Reichsgründung und die dadurch geschaffenen einheitlichen Strukturen sicher nicht möglich gewesen.
„Folgen: Aufschwung, Frieden und Parlamentarisierung“

Brachte der Krieg Europa nicht auch wertvolle politische Stabilität?

Kraus: Ja, denn die jahrelangen Konflikte zwischen den beiden deutschen Mächten um die Führung in Deutschland waren nun ausgeräumt. Seit 1879 waren das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn im Zweibund alliiert und stabilisierten die europäische Mitte. Deutschland wirkte 1878 auf dem Berliner Kongreß durch Bismarcks Vermittlung im Konflikt zwischen Rußland, der Türkei und Großbritannien als „ehrlicher Makler“, wie Bismarck es nannte, und half so, den Frieden in Europa zu sichern. Die kurz nach 1945 aufgekommene, auch heute noch gelegentlich vertretene These, das Bismarckreich sei ein für Europa eigentlich zu großer „Halbhegemon“ auf dem Kontinent gewesen, halte ich für unzutreffend.

Brachten der Krieg und dessen Folgen nicht auch eine Demokratisierung?

Kraus: Einen gewissen Demokratisierungs-, besser gesagt: Parlamentarisierungsschub brachte die Übernahme des seit 1866 für Norddeutschland bestehenden allgemeinen, gleichen und direkten Männerwahlrechts für den deutschen Reichstag, dessen Hauptfunktion es nach Bismarck sein sollte, integrierend zu wirken. Und das hat das Parlament bis 1918 auch geleistet.

Steckt in 150 Jahren Sedan nicht jede Menge Gegenwart, weil wir ja immer noch, trotz Wiedergründung 1949, in der Staatsform leben, die dieser Krieg geschaffen hat: dem Nationalstaat – der nach wie vor unsere primäre politische Ordnung ist? Zudem mit Rechtsstaatsprinzip, Parlamentarismus und Föderalismus, die zwar älter sind, aber alle 1871 verankert wurden.

Kraus: Im Grunde ja. Wobei man nicht vergessen darf, daß der Krieg 200.000 Tote kostete. Doch das Hauptergebnis war die Einigung Deutschlands mit allen positiven Folgen. Damals wurden die Fundamente geschaffen, auf denen auch das heutige, seit 1990 wiedervereinigte Deutschland noch immer steht: gemeinsame Währung, einheitliche Maße und Gewichte, eine allgemeine Rechtsordnung – etwa das Bürgerliche Gesetzbuch – und noch vieles andere, das uns heute selbstverständlich geworden ist. Insofern darf man auch nach 150 Jahren noch stolz sein – vielleicht weniger auf den Sieg über Frankreich als vielmehr auf das, was daraus folgte.


Prof. Dr. Hans-Christof Kraus Der Historiker ist Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Geschichte an der Universität Passau. Zuvor lehrte er in Speyer und an den Universitäten Stuttgart und München. Zu seinen Schwerpunkten gehört das 19. Jahrhundert. Geboren wurde Kraus 1958 in Göttingen.

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