© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/20 / 28. August 2020

Zwischenbilanz
„Wir schaffen das“: Vor fünf Jahren sagt Angela Merkel den berühmt gewordenen Satz / „Vollkommen falsch eingeschätzt“
Björn Harms/ Christian Vollradt


Sommer 2015: Die Migrationszahlen in Europa schnellen dramatisch in die Höhe. Der Druck auf die EU-Außengrenzen nimmt zu. Die ungarische Regierung beginnt am 13. Juli mit dem Bau eines 175 Kilometer langen Zauns an der Grenze zu Serbien. Wie aber reagiert Deutschland, fragen sich viele Bürger? Die Große Koalition rechnet Mitte August bereits mit bis zu 800.000 Migranten bis zum Jahresende. Am 26. August setzt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge schließlich das Dublin-III-Abkommen de facto außer Kraft.

Fünf Tage später begibt sich Kanzlerin Angela Merkel in die Bundespressekonferenz, um sich mit einem eindringlichen Appell an die Bevölkerung zu wenden. Die Worte, die sie wählt, sollen später zum Symbol werden: „Wir haben so vieles geschafft: Wir schaffen das“, beteuert sie. „Wir schaffen das, und wo uns etwas im Wege steht, muß es überwunden werden.“ Knapp zwei Millionen Asylbewerber sind seitdem ins Land geströmt.

„Unsere Kanzlerin war da sehr schlau“

Wie sieht es fünf Jahre später aus? Haben wir es tatsächlich geschafft? Entscheidende Aspekte bleiben zumindest in der medialen Diskussion häufig außen vor: Die Kriminalität unter Zuwanderern ist gemessen am Bevölkerungsanteil knapp fünfmal so hoch wie unter Deutschen. Knapp ein Drittel der Asylentscheidungen fällt negativ aus, abgeschoben wird jedoch kaum. Zudem sind Personen aus den Asylherkunftsländern noch immer deutlich überproportional in der Hartz-IV-Statistik vertreten.
Eine, die frühzeitig vor einer Überforderung gewarnt hat, ist die Bestseller-Autorin Katja Schneidt (JF 35/15 und 5/19). Als langjährige Ehrenamtliche in der Flüchtlingshilfe zeichnete sie ein ungeschöntes Bild von den Zuständen. Die JUNGE FREIHEIT fragte nach, wie ihr Resümee fünf Jahre später ausfällt:  

Am Beginn der Asylkrise 2015 sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel den berühmt gewordenen Satz „Wir schaffen das!“ Haben wir es geschafft, Frau Schneidt?

Schneidt: Unsere Kanzlerin war da sehr schlau, denn sie hat sich ja nie festgelegt: Was schaffen wir? Flüchtlinge im eigentlichen Sinne kommen nur für einen begrenzten Zeitraum, bis sich die Situation in ihrem Heimatland gebessert hat. Schon früher habe ich gesagt: Wir schaffen es sicherlich, ein, zwei, sogar auch drei Millionen Menschen für einen begrenzten Zeitraum mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen, um sie dann, wenn die Lage sich beruhigt hat, nach Hause zu schicken. Aber das hat unsere Kanzlerin nie festgelegt. Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als die Kriege im früheren Jugoslawien ausbrachen. Da hatte man hier auch 200.000 Flüchtlinge aufgenommen. Aber da machte man nicht viel Aufhebens, sprach nicht von Integrationskursen, sondern es war klar: Wenn der Krieg vorbei ist, kehren die Leute wieder zurück. Jetzt ist es eine andere Situation. Die Menschen sind gekommen, um zu bleiben. Das wird auch nicht verheimlicht. Ein Großteil der Asylanträge wird abgelehnt. Die Gerichte schaffen es nicht, die Widersprüche zeitnah zu bearbeiten. Und so kenne ich viele Fälle, in denen die Betroffenen hier mit einer Duldung in Gemeinschaftsunterkünften sitzen. Sie sprechen schlecht Deutsch, sind frustriert und finanzieren ihren Lebensunterhalt mit Drogenhandel oder Schwarzarbeit. Das ist die traurige Realität. Dann haben wir vielleicht zehn Prozent, die hier Fuß gefaßt, eine Ausbildung gemacht haben, die Teil der Gesellschaft geworden sind – die gibt es, definitiv. Ich habe selbst eine junge Frau aus Afghanistan begleitet, die Abitur gemacht hat und nun Medizin studiert. Das gibt es – aber es ist die Ausnahme.

Die Bilder von langen Schlangen vor den Erstaufnahmen oder von überfüllten Turnhallen-Unterkünften sind aus den Nachrichten verschwunden. Wo sehen Sie trotzdem noch gravierende Probleme – und tut die Politik alles, diese zu beheben?

Schneidt: Na ja, bestehende Mißstände thematisiert heute kaum einer mehr. Politiker, die in der Lage wären, die Probleme abzustellen, gehen nicht dorthin, wo es weh tut. Stillschweigend nimmt man hin, wie sich immer mehr Parallelgesellschaften bilden.
Dort, wo ich mich engagiere, gibt es einen Sozialarbeiter für 240 Leute in einer Gemeinschaftsunterkunft. Wie soll das funktionieren?

War Merkels Satz blauäugig und damit fahrlässig oder wollte sie die absehbaren Schwierigkeiten bewußt verschleiern?

Schneidt: Die Bundeskanzlerin hat die Entscheidung, diese Flüchtlinge einreisen zu lassen, ja nicht alleine getroffen. Sie und ihre Berater haben dabei die Sozialen Netzwerke völlig unterschätzt. Das wurde verbreitet und verstanden als Signal: Die wollen uns dort. Das war ein fatales Zeichen. Ich glaube nicht, daß Frau Merkel dies bewußt gemacht hat. Meiner Meinung nach hat sie die Situation vollkommen falsch eingeschätzt – und dann verpaßt, rechtzeitig die Reißleine zu ziehen.

In der aufgeheizten Stimmung damals schien das Land geteilt zu sein in – polemisch gesprochen – „Dunkeldeutschland“ und „Bahnhofsklatscher“. Saßen Sie da zwischen den Stühlen – als einerseits Flüchtlingshelferin und andererseits Kritikerin der damaligen Asylpolitik?

Schneidt: Die Spaltung der Gesellschaft nehme ich als sehr tief wahr. Ein Beispiel aus Bremen. Ich bin dort oft in einem Viertel mit rund 90 Prozent Einwandereranteil. Viele kommen aus Afrika. Die Deutschen, die dort noch wohnen, sind meistens alt, haben Wohneigentum, aber versuchen das Viertel zu verlassen. Aufkleber mit „Refugees welcome“ oder „Kein Mensch ist illegal“ sieht man dort nicht. Die gibt es dafür dort, wo eher Wohlhabende wohnen, Ärzte, Anwälte ... Aber da leben wiederum kaum Einwanderer, keine Flüchtlinge. Die, die sich solche Sprüche an die Fenster hängen, leben nicht in der Parallelgesellschaft. Mich persönlich können die Leute schwer einordnen. Ich habe beides erlebt: sowohl Absagen von Buchprojekten, weil meine Thesen dem Verlag zu einwanderungskritisch waren, als auch Absagen von Vermietern, weil ich Muslimin und mit einem Algerier zusammen bin. Ich werde also von einer Ecke in die nächste geschupst, gehöre aber weder in die eine noch die andere. Es gibt mehr als schwarz und weiß. Nur weil ich multikulturell bin, muß ich nicht gut finden und zuschauen, wie unser Land gegen die Wand gefahren wird. Nur weil ich die Mißstände anspreche, bin ich doch nicht fremdenfeindlich!

„Eine Situation wie die des Sommers 2015 kann, soll und darf sich nicht wiederholen“, sagte Merkel ein Jahr später. Vertrauen Sie dieser Aussage der Kanzlerin oder war das nur eine Beruhigungspille für die Kritiker?

Schneidt: Das sind doch Floskeln, die uns beruhigen sollen. Ich stimme da eher dem österreichischen Kanzler Sebastian Kurz zu: Ein Sozialsystem, das für jeden zugänglich ist, kann nicht funktionieren. Unsere Regierung hat es verpaßt, nachhaltig etwas gegen die falschen Anreize zu tun. Aus meiner Erfahrung sage ich: Jedes Asylverfahren müßte nach drei bis spätestens sechs Monaten unwiderruflich abgewickelt sein. Den Leuten eine Duldung nach der anderen zu erteilen, sie ohne echte Perspektive auf Staatskosten über Jahre vor sich hindümpeln zu lassen, das hat nichts mit Asylrecht, auch nichts mit Menschenfreundlichkeit und schon gar nichts mit Flüchtlingshilfe zu tun. So jemanden dann nach fünf oder zehn Jahren abschieben zu wollen, das ist dann wirklich unmenschlich. Entweder jemand hat einen Anspruch, dann sollte er zu einem Teil der Gesellschaft werden; oder er hat keinen Anspruch, dann muß er spätestens nach sechs Monaten zurück. Es kann nicht sein, daß wir nur 15 Prozent aller abgelehnten Asylbewerber ausweisen. Punkt.




Katja Schneidt, Jahrgang 1970, ist Sachbuch- und Romanautorin. Auch ihr Titel „Wir schaffen es nicht. Eine Flüchtlingshelferin erklärt, warum die Flüchtlingskrise Deutschland überfordert“ schaffte es 2017 auf die Spiegel-Bestsellerliste.