© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/20 / 28. August 2020

Die Tugenden der Dorfwiesen
Rockmusikgeschichte: Vor fünfzig Jahren stürmte die britische Band The Kinks mit „Lola“ die Hitlisten
Björn Schumacher


Mit der ganzen Rockkultur von 1968 konnte ich nichts anfangen“, erklärte kürzlich Ray Davies, Sänger und Songschreiber der britischen Band The Kinks, in einem Interview mit dem Magazin Classic Rock. „Das war damals eine privilegierte Revolution von sehr reichen Mittelklasse-Leuten. Ich wollte lieber über echte Leute singen. (…) Es war eine Revolution, die nie wirklich irgendwohin führte – ein paar trendige Typen, die Flaggen schwingen. Ich mochte das nicht, sah es nur als Modeerscheinung.“
Die Londoner Band hatte Mitte der sechziger Jahre mit Titeln wie „You Really Got Me“ (eine Art Initialzündung des Hardrock), dem Sommerhit „Sunny Afternoon“ und dem poppigen „Waterloo Sunset“ zu den Marktführern gehört. Doch erst im Sommer 1970 gelang den Kinks wieder ein Welthit. Alles schunkelte zu den Klängen von „Lola“ – dem lasziven Song über einen Jüngling, der sich am Ziel seiner spätpubertären Wünsche wähnte, um im entscheidenden Moment zu entdecken, daß die von ihm angebetete „Frau“ ein Transsexueller war.

Höhenflüge wechseltenmit Bauchlandungen

„Lola“ bediente die Sehnsüchte eines linksliberalen, seit 1968 tonangebenden Milieus. Wäre Ray Davies dieser Agenda von Anfang an gefolgt, hätte es den Karriereknick von 1968/69 nie gegeben. So aber fielen ihre ambitioniertesten Werke kommerziell durch. Das Album „The Kinks are: The Village Green Preservation Society“ – heute als Meilenstein der Rockmusik geschätzt – verfehlte die Hitparaden komplett. „Arthur (or the Decline and Fall of the British Empire)“ kletterte mühsam auf Rang 105 der US-amerikanischen Billboard Charts.

Tatsächlich grenzte sich Davies von den Vorstellungen einer auf Rebellion, freie Liebe und Drogenkonsum getrimmten Jugend konsequent ab. Im Song „Two Sisters“ stellte er der liebevoll porträtierten Hausfrau und Mutter Priscilla die libertinöse, ihre Moden und Liebhaber wechselnde Sybilla gegenüber und kanzelte sie – fernab von den Werthaltungen der „angry young men“ (and women) – als sprunghafte Göre („wayward lass“) ab.
Das Album „The Village Green Preservation Society“ (1968) feierte das englische Landleben und seine bodenständigen Menschen. Zudem beschworen die Kinks längst vergessene Tugenden der viktorianischen Zeit. Textprobe aus dem skurrilen, aber urkonservativen Titelsong, der dem Namen The Kinks (= Die Schrulligen) alle Ehre machte: „Wir sind die Dorfwiesen-Rettungsgesellschaft. (…) Gott schütze das Georgs-Kreuz und alle, denen es verliehen wurde. (…) Gott schütze kleine Läden, Porzellantassen und die Jungfräulichkeit. Wir sind das Wolkenkratzer-Verdammungs-Syndikat. Gott schütze Tudorhäuser, antike Tische und das Billardspiel.“
Mit dieser zeitgeistfeindlichen Lyrik mutierte die „Dorfwiesen-Rettungsgesellschaft“ zur frühen Graswurzelbewegung. Beeindruckt zeigte sich US-Kulturkritiker John Mendelsohn. Er attestierte Ray Davies, „fortwährend das Risiko einzugehen, ein so verwegenes Thema wie den Konservatismus der kleinen Leute“ aufzugreifen. Heinz-Rudolf Kunze adelte den Musiker als „Honoré de Balzac des Pop“, der eine längst versunkene Epoche nicht nur beschrieben, sondern in unserer Vorstellung quasi neu erschaffen habe.

1969 legten die Kinks mit dem Konzeptalbum „Arthur (or the Decline and Fall of the British Empire)“ nach. Es beleuchtete das Vereinigte Königreich in den Zeitläuften des 20. Jahrhunderts – erneut keine Projektionsfläche für Jugendliche, die gebannt auf den „Street Fighting Man“ der Rolling Stones starrten oder der Empfehlung „Feed Your Head“ von Jefferson Airplane folgten und halluzinogene Drogen erprobten.
Die Kinks erzählten jetzt die Geschichte des kleinbürgerlichen Teppichlegers Arthur Morgan, der seinen Bruder auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs verloren („Some Mother’s Son“) und mit Churchills Durchhalteparolen 1940 ff. gefremdelt hatte („Mr. Churchill Says“). In den Abhängigkeiten seines Jobs fühlte sich Morgan „Brainwashed“, fand sein Glück auch nicht im eigenen Reihenhaus („Shangri-La“) und emigrierte schließlich nach „Australia“.
Kommerzielle Höhenflüge wechselten mit neuen Bauchlandungen. Der Mainstream wußte nie so recht, was er von den Kinks halten sollte. Warnungen der Band vor einem schwarzen Rassismus gegen Weiße („Black Messiah“, 1978) verortete Kritiker Heinz-Rudolf Kunze im weltanschaulichen Umfeld der CSU.

Hohe Verkaufszahlen erreichten die Kinks mit kraftvollem, gitarren-orientiertem Rock in den 1980er Jahren, bevor man es ruhig ausklingen ließ. Der Dank des Vaterlandes war Ray Davies gewiß. Er wurde 2017 im Buckingham Palast von Prince Charles zum Ritter geschlagen. Dies hat wohl seine Lust auf neue Kinks-Aktivitäten geweckt. Seit Monaten trifft sich das einst verfeindete Brüderpaar Ray und Dave Davies (Gitarrist) im Aufnahmestudio und tüftelt an neuem Material.