© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/20 / 28. August 2020

China wird sich auf absehbare Zeit nicht Demokratie und Individualismus weihen
Der andere Weg
Peter Kuntze

Sowohl Voltaire als auch bedeutende Repräsentanten der deutschen Aufklärung hielten das einstige „Reich der Mitte“ in vielen Belangen für fortschrittlich und beispielgebend. So pries der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz in seinen „Novissima Sinica“ das Regierungssystem des Kaisers Kangxi (1661–1722), und der Philosoph, Jurist und Mathematiker Christian Wolff lobte das auf der konfuzianischen Tugendlehre basierende Erziehungswesen. China, so Wolffs Resümee, habe die beste und vernünftigste Staatsordnung.

Und heute? Tempi passati: Nicht nur in Deutschland, in allen westlichen Ländern, denen die liberale Demokratie als historisch beste Staatsform gilt, ist die Volksrepublik zum Feindbild Nummer eins avanciert. Für Nato und EU ist sie ein „systemischer Rivale“. Landauf, landab heißt es, unter Führung Xi Jinpings, des von manchen Medien zum neuen Herrn der Finsternis stilisierten Staats- und Parteichefs, breche Peking das Völkerrecht und verletze permanent die Menschenrechte. Während die Linken Chinas Staatskapitalismus verurteilen, der zu einer sozialen Ungleichheit schlimmer als in den USA geführt habe, sehen viele Rechte eine Funktionärs­clique in der Nachfolge Mao Zedongs am Werk, die nicht nur das eigene Volk versklave, sondern einen „globalen Gulag“ anstrebe – so Steve Bannon, Präsident Donald Trumps ehemaliger Chefstratege. Die Liberalen wiederum schütteln sich vor Abscheu angesichts eines digitalen Überwachungsstaats, den Chinas Kommunistische Partei zum Exportschlager für alle autoritären Herrscher machen wolle.

Woher rührt diese immer schriller werdende Kampagne, die sich zuweilen zu blankem Haß steigert? Die Antwort fällt nicht schwer: Es ist die kaum kaschierte Wut darüber, daß China sich anmaßt, seine einstige Weltmachtrolle wiedereinzunehmen, ohne sich zu demokratisieren und die „westlichen Werte“ anzuerkennen. Bundeskanzlerin Angela Merkel brachte es Ende Juni anläßlich der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft auf den Punkt: „Das Beispiel China zeigt, daß auch ein nichtdemokratischer Staat wirtschaftlich erfolgreich sein kann, was unsere freiheitlichen Demokratien herausfordert.“ Bereits ein Jahrzehnt zuvor, im Juli 2010, hatte Pekings Vize-Außenministerin Fu Ying Redakteure der Zeit gewarnt: „Wenn Sie China immer an Ihren Maßstäben messen, und wenn Sie erwarten, China werde eines Tages wie der Westen sein, dann wird diese Hoffnung Sie immer wieder trügen. Sie sollten jedenfalls nicht glauben, daß alle in China ohne Gehirn herumlaufen – 1,3 Milliarden Menschen!“

Daß in hiesigen Medien das China-Bashing oftmals mit Halbwahrheiten und Unterstellungen einhergeht, läßt sich immer häufiger beobachten. Ausgangspunkt der jüngsten Kritikwelle war der Ausbruch der Corona-Epidemie Ende 2019 in der Millionen-Stadt Wuhan. Über den Ursprung des  Virus und den Zeitpunkt der Information durch die Behörden kursieren bis heute Verschwörungstheorien und unbewiesene Behauptungen. Unstrittig sind folgende Daten: Am 27. Dezember 2019 meldet eine Ärztin der Hubei-Klinik drei Fälle einer Lungenentzündung unbekannter Ursache, vier Tage später löst Wuhans Gesundheitskommission Alarm aus und empfiehlt das Tragen von Schutzmasken. Am 31. Dezember, dann fortlaufend ab 3. Januar informiert China die Weltgesundheitsorganisation (WHO) über die noch rätselhafte Krankheit, am 12. Januar veröffentlicht Peking das Genom des als Sars-CoV-2 identifizierten Virus und teilt der WHO am 20. Januar mit, daß es von Mensch zu Mensch übertragen wird. Am 23. Januar wird Wuhan abgeriegelt, zwei Tage später die gesamte Provinz Hubei mit sechzig Millionen Einwohnern.
Wie einseitig berichtet wird, zeigt Hongkong. Hier wurde der Eindruck erweckt, die Mehrheit sei für die Demokratie-Bewegung. Was nahezu alle Medien verschwiegen: Drei Millionen Bürger unterzeichneten eine Petition für das Sicherheitsgesetz.

Obwohl die Gefährlichkeit des Coronavirus seit dem 20. Januar bekannt war, ließen sich die USA und die europäischen Staaten, auch Deutschland, fünf bis sechs Wochen Zeit, ehe sie Gegenmaßnahmen einleiteten. Gleichwohl wird Peking nach wie vor beschuldigt, die Öffentlichkeit zu spät informiert und weltweit den Tod Hunderttausender Menschen sowie desaströse Schäden verursacht zu haben. In den USA laufen bereits Klagen auf Schadenersatz.
Wie lückenhaft und einseitig die Berichterstattung ist, zeigt sich bei den Vorgängen in Hongkong. Hier wurde der Eindruck erweckt, die Mehrheit in der einstigen britischen Kronkolonie unterstütze den Protest der Demokratie-Bewegung gegen Übergriffe Pekings. Was nahezu alle Mainstream-Medien verschwiegen: Im Mai unterzeichneten drei Millionen Hongkonger eine Petition zur Unterstützung des vom chinesischen Volkskongreß beschlossenen  Sicherheitsgesetzes; einer ihrer Initiatoren war der Kungfu-Star Jackie Chan. Seit langem schon ist die Bevölkerung der Finanzmetropole gespalten. Es sind vorwiegend junge Leute aus der wohlhabenden Mittelschicht, die in den letzten Jahren auf die Straße gingen und gegen jegliche Einflußnahme Pekings protestierten. Auch wenn sich ihnen zeitweise Hunderttausende anschlossen, bleibt die Volksrepublik gemäß dem Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“ Hongkongs Souverän.

Völkerrechtlich ist die Sonderverwaltungszone wie die 1999 von Portugal zurückgegebene Kolonie Macao ein unabtrennbarer Teil Chinas. Das ebenfalls nach dem genannten Prinzip regierte Macao, wegen seiner Spielcasinos als „Las Vegas des Ostens“ bekannt, ist heute eine prosperierende Stadt mit weitgehenden Freiheitsrechten, in der es keine sozialen oder politischen Unruhen gibt. Lag das Pro-Kopf-Einkommen der kleinen Sonderverwaltungszone 1999 bei rund 15.000 Dollar, ist es inzwischen auf 112.000 Dollar gestiegen (Süddeutsche Zeitung, 20. Dezember 2019).

Als es 2019 in Hongkong immer häufiger zu blutigen Straßenschlachten mit der Polizei kam und die Rufe nach Unabhängigkeit lauter wurden, sah sich die nationale Regierung in Peking zum Eingreifen genötigt und erließ Ende Juni ein Sicherheitsgesetz, das „Separatismus, Subversion, Terrorismus und Verschwörung mit ausländischen Kräften“ unter Strafe stellt. Verglichen mit der Lage unter der britischen Herrschaft von 1842 bis 1997 genießen die rund sieben Millionen Einwohner trotz des neuen Gesetzes Freiheiten und Rechte, die in der Kolonialzeit undenkbar waren. Damals regierten von London entsandte Gouverneure mit autoritärer Macht, die pro forma einen „Legislativrat“ mit bloß beratender Funktion ernannten. Ende 1984 unterzeichneten Großbritannien und die Volksrepublik eine Deklaration, der zufolge Hongkong am 1. Juli 1997 zu einer Sonderverwaltungszone Chinas werden würde. Für die nächsten fünfzig Jahre sollte die Stadt ihr Finanzsystem, ihre Gesetze und die kapitalistische Wirtschaft beibehalten, von freien und allgemeinen Wahlen war dabei noch nicht die Rede.

Erst acht Jahre später, 1992, besannen sich die Briten auf die Instrumente der Demokratie. In jenem Jahr trat Christopher Patten als 88. und letzter Gouverneur sein Amt an. Er gab die traditionelle Rolle als Präsident des Legislativ- und des Exekutivrats auf und setzte durch, daß die Vertreter der Berufsverbände sowie die Stadtteil- und Distriktsräte nicht mehr intern bestimmt, sondern direkt gewählt werden. Zum Unwillen Pekings kündigte er auch freie allgemeine Wahlen an, deren Ergebnis über den Zeitpunkt der Übergabe der Kolonie hinaus Bestand haben sollte. Aus der Abstimmung, die 1995 stattfand, ging zwar die „Demokratische Partei“ als Sieger hervor, doch nur 36 Prozent der Wahlberechtigten hatten ihre Stimme abgegeben.

Während im Westen Individuum vor Gemeinschaft rangiert und man dem Staat eher mißtraut, ist es im China des Konfuzius umgekehrt. Dem Staat wird eine paternalistische Rolle zugewiesen – er soll Gemeinwohl über Einzelinteressen stellen.

Als Hohn muß es geschichtsbewußten Chinesen erscheinen, wenn die Nachfahren einstiger Kolonialherren jetzt die Fahne der Menschenrechte schwenken und sich als moralische Lehrmeister aufspielen. Für das einstige „Reich der Mitte“ begann mit der Abtretung Hongkongs ein Jahrhundert der Demütigung. Mit Hilfe aufgezwungener „ungleicher Verträge“ zerstückelten und plünderten die europäischen Mächte sowie Rußland, die USA und Japan das Land, ehe es 1949 mit der Gründung der Volksrepublik das Trauma der Schwäche und der Fremdbestimmung allmählich überwinden konnte. Heute ist China nicht nur die zweitgrößte Wirtschaftsmacht, sondern auch der größte staatliche Gläubiger der Welt. Seit es der Regierung gelungen ist, in den letzten dreißig Jahren 700 Millionen Menschen aus der Armut zu führen – eine in der bisherigen Geschichte einmalige Leistung –, ist die Volksrepublik mit ihren heute 1,4 Milliarden Einwohnern, darunter eine rasch wachsende Mittelschicht, der größte Binnenmarkt der Welt, dreimal größer als die EU und viermal größer als die USA.

Der Westen wird sich damit abfinden müssen, daß auf der Weltbühne ein mächtiger Akteur erschienen ist, um nach entbehrungsreichen Jahrzehnten und selbstverschuldeten Rückschlägen während der Mao-Ära seinen einstigen Platz wiedereinzunehmen. Im deutschsprachigem Raum ist der Schweizer Jurist und Sinologe Harro von Senger einer der wenigen, die sich um ein differenziertes China-Bild bemühen. Daß dieses Bild stark von dem in den Medien gezeichneten abweicht, gilt besonders für die Frage der Menschenrechte. Unter Berufung auf offizielle Beschlüsse der Vereinten Nationen weist von Senger darauf hin, daß die Menschenrechte sowohl individuelle als auch kollektive, sowohl politische als auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte umfassen. Eine Hierarchisierung gibt es nicht. Die vom Westen stets betonten Rechte des Individuums stehen somit keineswegs an oberster Stelle, sondern sind gleichrangig mit den Kollektivrechten – dem Recht auf Entwicklung, dem Recht auf Nahrung, auf Arbeit, Wohnraum, Gesundheit, Bildung etc. Unter diesem Aspekt ist die stete Klage, Peking verletze die Menschenrechte, einseitig und ungerecht. Schließlich ist die Befriedigung jener Grundbedürfnisse die Voraussetzung für ein menschenwürdiges Dasein.

Während im Westen das Individuum vor der Gemeinschaft rangiert und man dem Staat eher mit Mißtrauen begegnet, ist es im konfuzianisch geprägten China umgekehrt: Hier wird dem Staat eine paternalistische Rolle zugewiesen – er soll das Gemeinwohl über die Einzelinteressen stellen. Daher stößt das neue Sozialkredit-System, das den Bürgern je nach Verhalten Bonus- oder Malus-Punkte zuweist und auf modernster Überwachungstechnik beruht, kaum auf Widerstand. Aus Sicht der Vereinten Nationen kann es somit auch kein politisches System geben, das für alle Nationen in gleicher Weise geeignet ist – selbst die westlichen Formen der Demokratie nicht. In seiner Abhandlung „Die VR China und die Menschenrechte“ verweist Harro von Senger auf die Resolution, die die UN-Menschenrechtskommission im April 2003 mit 29 gegen zwölf Stimmen bei zwölf Enthaltungen angenommen hat: „There is no universal model of democracy.“


Peter Kuntze, Jahrgang 1941, war Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Er ist Autor des Buches „Chinas konservative Revolution oder Die Neuordnung der Welt“ (2014). Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Deutschlands ethnische Fragmentierung („Es wird noch bunter“, JF 23/20).

„Einigkeit ist Stärke“ heißt dieses Ölgemälde, welches den Kampf der Chinesen gegen den Coronavirus darstellen soll und ab August zwei Monate im Chinesischen Nationalmuseum in Peking ausgestellt wird. Im Vordergrund stehen Zhong Nanshan and Li Lanjuan, Chinas führender Arzt und führende Epidemiologin, welche beide Mitglied in der Kommunistischen Partei sind: Ganz offenbar heroisch inszeniert, aber trotzdem allem Anschein nach erfolgreich bekämpfte das selbsternannte Reich der Mitte die Covid-19-Pandemie. Äußere Feinde haben es hier schwer.