© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/20 / 28. August 2020

Ein Raubzug und seine Tradierung
Am 2. September 1945 verkündete Wilhelm Pieck im brandenburgischen Kyritz die „Bodenreform“ / Es folgten Tausende Fälle von Enteignung und Vertreibung
Michael Dienstbier


Ein sowjetisches Restitutionsverbot als Bedingung für die deutsche Wiedervereinigung – Mythos oder Wahrheit? Helmut Kohl erinnerte sich ganz genau und gab 1991 zu Protokoll, die Sowjetunion habe auf der anhaltenden Gültigkeit der zwischen 1945 und 1948 vollzogenen „demokratischen Bodenreform“ in der Sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, bestanden. Alles falsch, so Gorbatschow, bei den Verhandlungen sei das Thema der Rückgabe enteigneten Besitzes an die alten Eigentümer oder deren Nachfahren überhaupt nicht angesprochen worden. Die entscheidende Frage dabei ist nicht so sehr, wer lügt, sondern welche politischen Interessen sich hinter den unterschiedlichen Urteilen verbergen.

Als Wilhelm Pieck, der zukünftige erste Vorsitzende der SED, am 2. September 1945 in enger Absprache mit der Sowjetischen Militäradministration im brandenburgischen Kyritz unter dem Slogan „Junkerland in Bauernhand“ den Beginn der Bodenreform verkündete, war ihm Applaus gewiß. Bis ins bürgerliche Milieu hinein war die Enteignung der ostelbischen Großgrundbesitzer, um das Land aufzuteilen und Kleinbauern zu überlassen, nicht unpopulär. Ideologisch paßte die Reform in die neue Zeit, sah man im Kommunismus den Großgrundbesitzer seit Jahrhunderten als Quell des Bösen und wollte durch dessen Bekämpfung die „ökonomischen Grundlagen des deutschen Imperialismus und Militarismus und alle Wurzeln des Faschismus“ beseitigen, wie es in einem DDR-Lexikon hieß. Auch politisch erschien die Reform opportun. Zwei Drittel der enteigneten Fläche wurden an Neubauern oder landarme Bauern verteilt, darunter viele Vertriebene aus den deutschen Ostgebieten, die so eine neue Lebensgrundlage erhielten, was vielen die Akzeptanz der neuen Machtverhältnisse zumindest kurzfristig erleichterte.
Nutznießer der Enteignung wurde später kollektiviert

Entschädigungslos enteignet wurde Besitz über 100 Hektar und kleinere Ländereien von angeblichen ehemaligen NSDAP-Mitgliedern oder Kriegsverbrechern. In der Praxis spielten diese Voraussetzungen keine Rolle. Enteignet wurde, was den neuen Machthabern ins Konzept paßte, so daß viele, die bereits unter den Nationalsozialisten litten, nun wieder zu Opfern wurden und teilweise in „Speziallagern“ der Sowjets landeten. Über 14.000 Betriebe, eine Fläche von knapp 3,3 Millionen Hektar, wurden enteignet. Schnell traten erste Probleme auf. Es fehlte an Vieh, Gerät und vielen Neubauern auch schlicht am Können, um ihren Hof produktiv bewirtschaften zu können. Ab 1952 erfolgte schließlich die Kollektivierung der Landwirtschaft in den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) als eine Folge der Bodenreform.

Die Frage, was bei der Privatisierung der LPG mit dem ehemaligen Bodenreformland passieren sollte, war bei den Verhandlungen über den Einigungsvertrag 1990 für die DDR-Regierung unter Lothar de Maizière von enormer Bedeutung. Eine Wiederherstellung der ursprünglichen Besitzverhältnisse von vor 1949 kam für sie nicht in Frage. Kohl entschied, daß das begangene Unrecht an den Enteigneten ein akzeptabler Preis für die Einheit war, zumal er davon ausgehen konnte, daß er keine massiven Proteste in Ost und West auslösen würde, und sicherte so die Zustimmung der Volkskammer der DDR zur Wiedervereinigung. Die Politikwissenschaftlerin Constanze Paffrath kam 2004 in ihrer Doktorarbeit zu dem Ergebnis, daß die Sowjetunion lediglich Straffreiheit für alle die Bodenreform betreffenden Maßnahmen gefordert habe, nicht jedoch ein Restitutionsverbot – dies sei eine Erfindung Kohls gewesen, um sein politisches Kalkül ins Gewand des Alternativlosen zu kleiden.

Juristisch hatten die alten Besitzer keine Chance, das Bundesverfassungsgericht lehnte alle Klagen auf Rückgabe oder nennenswerte Entschädigung ab und berief sich dabei auch auf das angebliche Restitutionsverbot der Sowjetunion. 2005 bestätigte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diese Urteile. Daß Unrecht über Nacht zu Recht werden kann, wenn der politische Wind sich dreht, ist eine Lektion, die nichts von ihrer Relevanz verloren hat.