© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/20 / 28. August 2020

„Heute vor 150 Jahren“
Ein Twitter-Projekt zweier Professoren und ihrer Studenten erinnert an den Krieg 1870/71
Boris T. Kaiser


In den sogenannten sozialen Netzwerken geht es zunehmend nicht sonderlich geistreich und tiefsinnig zu. Die Kommunikation beschränkt sich meist auf mehr oder weniger wortgewandte Kommentierungen des aktuellen Zeitgeschehens; angereichert mit unterirdischen Beleidigungen der jeweils Andersdenkenden und mit politisch korrekten Kampagnen, auf die oft die sie abrundenden Zensur-Maßnahmen folgen.

Ein Twitter-Projekt „von Studierenden der PH Ludwigsburg und Ruhr-Universität Bochum“ stellt da eine sehr angenehme und anregende Abwechslung dar. Der Account „Heute vor 150 Jahren“ beschäftigt sich eingängig mit dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71. Das Ganze in einer Präzision und Ausführlichkeit, die nicht nur für den auf 280 Zeichen pro Tweet begrenzten Microbloggingdienst aus den USA ungewöhnlich ist. Die Betreiber schaffen es, das historisch so bedeutsame aber eben durchaus komplexe Thema mit einer Detailverliebtheit und Leichtigkeit zu präsentieren, die ihresgleichen sucht; und einen sogar die unsägliche genderneutrale Sprache aus dem Vorstellungstext des Twitter-Kontos vergessen läßt, um die man bei einem Uniprojekt heute offenbar nicht mehr ganz herumzukommen scheint.

In den Tweets wird auf diese aber Gott sei Dank verzichtet. Diese schaffen eine Art Echtzeit-Atmosphäre, indem sie die Geschichte des Krieges von vor 150 Jahren im Stile eines Nachrichtentickers nacherzählen und dabei fortlaufend über die „aktuellen“ Ereignisse an der Front berichten. Auch die ersten Gefallenen werden erwähnt inklusive eines kleinen Seitenhiebs gegenüber den französischen Kollegen in Form eines „Corrigendum zu einem Gedenkstein“, auf dem, wie das dazugehörige Foto zeigt, der auf deutscher Seite gefallene gebürtige Schotte William Herbert Winsloe als „Dragon Prussien“ bezeichnet wird, obwohl die Bezeichnung „Dragon Badenois“ die richtige gewesen wäre.

Einzelschicksale eingewoben

Leiter des Twitter-Projekts sind die beiden Historiker Prof. Tobias Arand und Jun.-Prof. Christian Bunnenberg. Der Geschichtsdialektiker Arand hat zahlreiche Arbeiten zu dem Thema publiziert. Unter anderem das im Osburg Verlag erschienene Buch „1870/71. Die Geschichte des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 erzählt in Einzelschicksalen“.
Bunnenberg hat an vielen Lehrbüchern mitgewirkt und ist außerdem Mitherausgeber des Werks „Geschichte auf Youtube. Neue Herausforderungen für Geschichtsvermittlung und historische Bildung“. Es ist diese moderne, jugendorientierte und mitunter sehr persönliche Herangehensweise an das geschichtsträchtige Kriegsthema, die das Netzprojekt ausmacht und dem Profil seinen besonderen Charme verleiht.

Große Namen wie #KönigWilhelm1 oder #Bismarck7071 werden ebenso gekonnt eingebunden, wie kaum bekannte Einzelschicksale. Wenn es zum Beispiel heißt: „#JohannZeitz hilft die Wagen abzuladen, Schinkenbrote zu schmieren und Wein zu verwässern. Im Schloß, in der Kirche, in den Bauernhäusern liegen die Verwundeten. Soldaten helfen die Brote und die Getränke an die Verwundeten zu verteilen“, schafft das trotz aller zeitlichen Distanz und digitalen Nüchternheit, ein packendes Gefühl des Dabeiseins in all seinen Facetten. Wenn natürlich auch in einer deutlich abgemilderten Form.

Die Macher, die in den ersten vier Kriegswochen bereits über 1.000 Tweets abgesetzt haben, arbeiten aber auch mit alten Karten und Illustrationen der Schlachten, wie jener von der „#SchlachtBeiColombeyNouilly“, um ihre Gefolgschaft auf Twitter auf dem laufenden über das Frontgeschehen zu halten. Interessierte Folger können zu jedem Bild oder anderen Quellen Fragen stellen.

Mit etwas mehr als 1.900 Followern ist der Account noch relativ klein. Dennoch ist es „für ein Twitterprojekt zu einem im kollektiven deutschen Geschichtsgedächtnis wegen der Weltkriege weitgehend vergessenen historischen Ereignis ein toller Wert“, finden die Geschichts-Zwitscherer. Sie würden sich dennoch sicherlich freuen, wenn dieser in den nächsten Tagen zur großen Schlacht bei Sedan noch weiter ansteigen würde.