© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/20 / 28. August 2020

Der Flaneur
Maskenpflicht in der Bahn
Paul Leonhard


Der Triebwagenführer ist fröhlich. „Morjen“, grüßt er mit breitem Lächeln die wenigen Fahrgäste und verschwindet in seinem Kabuff. Sein Schaffner-Kollege dagegen ist griesgrämig, trägt Schutzmaske und marschiert grußlos durch das Abteil.

Mich hat er aus den Augenwinkeln wahrgenommen, denn er wendet den Kopf und blickt grimmig, aber da habe ich das Tuch schon über Mund und Nase gezogen. Seine Übellaunigkeit bekommen zwei junge Frauen zu spüren, die nicht ganz so schnell sind.

Der Schaffner wägt ab, was passieren könnte, wenn er jetzt eine Lippe riskieren würde.

„Hier ist Maskenpflicht, sonst geht es wieder raus oder ich hole die Bundespolizei“, herrscht er die Verblüfften an. Eine der Frauen zeigt sich aufmüpfig: „Ich habe gerade etwas getrunken.“ Das sei völlig egal, knurrt der Schaffner und zieht sich zum Triebwagenführer zurück. Die Tür fällt zu. Ich sehe trotzdem, wie er die Maske abnimmt und in dreifacher Hinsicht gegen Bestimmungen verstößt: Wie der Fahrer trägt er keine Maske, sie halten keinen Mindestabstand ein und unterhalten sich bis zum nächsten Halt angeregt, obwohl die Schrift an der Tür die Unterhaltung mit dem Triebwagenführer während der Fahrt streng verbietet.

An der nächsten Station läuft er zur Hochform auf: Ein vielleicht 14jähriger hat seine Maske noch nicht auf, was der Junge aber angesichts des rot angelaufenen Uniformierten sofort tut. Eine Asiatin kichert und bekommt einen bösen Blick zugeworfen. Aber da sie ordnungsgemäß Mund und Nase bedeckt hat, schüttelt der Zugbegleiter nur allgemein mißbilligend den Kopf. Später sehe ich, wie er kritisch zu einem muskelbepackten Tätowierten blickt, der gerade eine Bierflasche hervorkramt. Der Mann ist maskenlos. Ich kann richtig spüren, wie es in dem Schaffner arbeitet, wie er abwägt, was passiert, wenn er bei dem eine Lippe riskiert. Die Asiatin rettet die Situation. „Ihre Maske“, sagt sie zu dem Tätowierten. Der stutzt, stellt die Bierflasche ab, holt eine Maske hervor, setzt sie auf und bedankt sich für den Hinweis. Der Zugbegleiter atmet durch und entsinnt sich seiner eigentlichen Aufgabe: „Die Fahrkarten bitte.“