© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/20 / 04. September 2020

Unmut über „Cancel Culture“ wächst
Eisbrecher Sarrazin
Dieter Stein

Der Schweizer Publizist Milosz Matuschek initiierte Anfang der Woche einen löblichen „Appell für freie Debattenräume“, in dem ein „Sieg der Gesinnung über rationale Urteilsfähigkeit“ sowie „Herdendenken“ und „Kontaktschuld“ beklagt wird. Personen des öffentlichen und kulturellen Lebens würden „stummgeschaltet und stigmatisiert“, statt dessen sei die Solidarität Andersdenkender das Gebot der Stunde. 

Tatsächlich beobachten wir schon lange, wie im Rahmen meist linker Kampagnen Vertreter abweichender, meist nichtlinker Meinungen markiert, an den Pranger gestellt und aus dem Diskurs aussortiert werden. Veranstalter, Hoteliers, Gastwirte, aber auch Zeitungsredaktionen oder Funkhäuser werden unter Druck gesetzt, um „umstrittene“ Verdächtige auszusortieren und kaltzustellen. Seit neuestem ist hierfür der Begriff „Cancel Culture“ in Mode, Zwillingsschwester des „Deplatforming“, mit Hilfe derer „anstößigen“ Autoren, Kabarettisten oder Politikern Äußerungsmöglichkeiten entzogen werden und diese am besten von der Bildfläche verschwinden sollen.

Angesichts wachsender sozialer Repression gegen Andersdenkende ist es selten genug, wenn mitten im öffentlichen Leben stehende Menschen mutig solchem Konformitätsdruck widerstehen. Vor genau zehn Jahren leistete der Sozialdemokrat Thilo Sarrazin mit seinem Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ genau dies. Sein Buch wurde trotz einer aggressiven Kampagne zu einem der erfolgreichsten Sachbücher der deutschen Nachkriegsgeschichte: Bis heute wurden über 1,5 Millionen Exemplare dieses Buches gekauft.

Doch die Wut seiner Gegner wuchs: Die Speerspitze der Abwehr bildete nicht seine eigene Partei, die SPD, sondern die damalige CDU-Vorsitzende und Bundeskanzlerin Angela Merkel. Mit ihrem eisigen Satz, Sarrazins Buch sei „diffamierend“ und „nicht hilfreich“, flankierte sie entscheidend eine mediale Treibjagd gegen den mutigen Sozialdemokraten, die schließlich darin mündete, daß Sarrazin mit Hilfe des gescheiterten Bundespräsidenten Christian Wulff zum Ausscheiden aus dem Vorstand der Bundesbank gedrängt wurde.

Merkel und der sie stützende politisch-mediale Komplex wollten an Sarrazin ein Exempel statuieren. Doch der Erfolg des Buches war zu groß. Sarrazin blieb standhaft – bis heute. Auch wenn er gerade in letzter Instanz vom Bundesschiedsgericht der SPD aus seiner Partei ausgeschlossen wurde. Die Tiefenwirkung, die die von ihm 2010 angestoßene Debatte auslöste, ist nicht zu überschätzen. Sarrazin war entscheidender Eisbrecher für eine Gegenbewegung, die sich seit 2013 auch parteipolitisch niederschlägt. Mit seinem neuen Buch „Der Staat an seinen Grenzen“ setzt er nun einen weiteren argumentativen Kontrapunkt in einem von Tabus verstellten Diskurs.