© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/20 / 04. September 2020

Keine Wahlrechtsreform
Wenn der Diskurs entgleitet
Jörg Kürschner

Gibt es etwa einen Zusammenhang zwischen den Reichsflaggen vor dem Reichstag und der mißglückten Reform des Wahlrechts? Nicht auf den ersten Blick, denn das möglicherweise strafbare Gerangel (Landfriedensbruch) auf der Treppe des Parlaments und die Kompromißsuche der sechs Fraktionen nach einer Verkleinerung des Bundestags sind höchst unterschiedlich motiviert. Vor dem Reichstag ging es darum, die höchste deutsche Volksvertretung herabzuwürdigen. Im Reichstag ging es darum, die Akzeptanz des frei gewählten Bundestags zu verbessern. 

Und doch gibt es eine gemeinsame Ursache, die beide Geschehnisse miteinander verbindet. Es ist die Krise der repräsentativen Demokratie, die einhergeht mit einer Ansehenseinbuße des Bundestags. Diese zeigt sich etwa in dem Bedeutungsverlust der Parteien, denen der politische Diskurs zunehmend entgleitet. Die geplante Übergangslösung beim Wahlrecht, aufgemotzt durch Anleihen beim Zeitgeist wie Herabsetzung des Wahlalters und Geschlechtergerechtigkeit bei der Kandidatenaufstellung, überzeugt nicht. Es wäre vielmehr ein wichtiges Zeichen der Gewählten an die Wähler, den Bundestag sofort wieder auf Normalgröße zu bringen. Die funktionierende Demokratie, in der Gerichte das Demonstrationsverbot der Politik über Nacht kippen können, wäre dann auf dem Weg zu einer lebendigen Demokratie.