© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/20 / 04. September 2020

Manches ist gleicher als anderes
Reichstag: Empörung über Demonstranten auf den Stufen des Parlaments / Politiker fordern Wiedereinführung einer Bannmeile im Regierungsviertel
Paul Rosen

So einhellig waren politische Reaktionen selten. Von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bis zur AfD verurteilten alle politischen Akteure das Vorgehen einiger Demonstranten am Reichstagsgebäude, die nach einer Corona-Demonstration von „Querdenken 711“ Absperrgitter überwunden und die Treppen auf der Westseite des Gebäudes hochgestiegen waren. „Reichsflaggen, sogar Reichskriegsflaggen darunter, auf den Stufen des frei gewählten deutschen Parlaments, das Herz unserer Demokratie – das ist nicht nur verabscheuungswürdig, sondern angesichts der Geschichte dieses Ortes geradezu unerträglich“, erklärte der Bundespräsident, der zu Beginn der Woche demonstrativ einige Polizeibeamte in seinem Amtssitz schloß Bellevue empfing. Im politischen Lärm gingen Fragen nach unzureichenden gesetzlichen Grundlagen zum Schutz des Parlamentsviertels und das seltsame Schweigen der Politik bei einer vergleichbaren früheren Aktion unter.

„Daß Chaoten und Extremisten die „Wirkungsstätte unseres Parlaments … für ihre Zwecke mißbrauchen, ist unerträglich“, befand Innenminister Horst Seehofer (CSU). Der Staat müsse bei solchen Leuten „mit null Toleranz und konsequenter Härte durchgreifen“. SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz, erklärte: „Nazisymbole, Reichsbürger- und Kaiserreichflaggen haben vor dem Deutschen Bundestag rein gar nichts zu suchen.“ Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) fand das Verhalten der Demonstranten „verabscheuungswürdig“, Dietmar Bartsch (Linke) sprach von einem „Angriff auf die Demokratie“. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer forderte die Demonstranten auf, sich zu überlegen, ob es die Kritik rechtfertige, mit Nazis zusammen den Reichstag zu stürmen.

Die AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel nannte das Durchbrechen der Polizei-Absperrungen durch Demonstranten unerträglich. Das Verhalten sei genauso falsch wie der Mißbrauch des Reichstags durch Greenpeace-Aktivsten für ihre Propaganda vor einigen Wochen“.Beim Parlamentarischen Geschäftsführer der FDP-Fraktion, Marco Buschmann, waren wie bei Weidel  Zwischentöne vernehmbar: Reichsflaggen auf den Stufen des Reichstags fand er zwar unerträglich, aber zugleich benannte Buschmann das Verhalten der Berliner Behörden widersprüchlich, „als sie zuerst Versammlungen präventiv verbieten wollten, dann aber nicht die Bannmeile um das Parlament effektiv abgeschirmt haben“.

„Polizei läßt sie weitgehend gewähren“

Es war übrigens nicht der erste Ansturm von Demonstranten die Treppen des Reichstagsgebäudes hinauf. Im September 2010 fand in Berlin eine Demonstration von rund 50.000 Atomkraftgegnern statt (siehe unteres Bild). Obwohl das geplante Abhalten der Kundgebung auf der Wiese vor dem Reichstagsgebäude von den Behörden nicht erlaubt worden war, stürmten „Tausende Menschen über die rot-weißen Absperrgitter auf den Rasen und besetzen die Treppe vor dem Parlament. Die Polizei läßt sie weitgehend gewähren. Nach einigen Diskussionen ziehen sie freiwillig wieder ab“, so seinerzeit der Weser-Kurier. Die Zeitung schrieb von einem „kleinen Triumph“, den die Atomkraftgegner mit dem Besteigen der Treppe gefeiert hätten. Größere politische Reaktionen gab es damals nicht.

Die geänderte Rechtslage seit dem Umzug von Bundestag, Bundesrat und Regierung von Bonn nach Berlin spielt in den aktuellen Diskussionen keine Rolle. In Bonn gab es rund um Bundestagsgebäude und den Bundesrat eine Bannmeile, eingeführt per Gesetz von 1955. Innerhalb dieser Bannmeile waren „öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel sowie Aufzüge und politische Demonstrationen verboten“, Ausnahmen waren möglich. 

In der Praxis der letzten Bonner Jahrzehnte waren größere Ausnahmen nicht bekannt. Demonstrationen fanden ihre Grenzen stets an der Adenauerallee, wo zum Beispiel am 26. Mai 1993 die Teilnehmer einer großen Pro-Asyl-Demonstration auf einen geschlossenen Polizei-Kordon stießen. Kein Demonstrant kam in den Bannmeilen Bezirk. Auch bei der großen Bergleute-Demonstration 1997 hielten in Bonn die Absperrungen nicht zuletzt deshalb, weil die Polizei die Demonstranten aufgrund der sicheren Rechtsgrundlage des Bannmeilen-Gesetzes aufhalten konnte.

Beim Berlin-Umzug sprach sich der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) gegen ein „überzogenes Bannmeilengesetz“ aus. Ein riesiges Areal in der Mitte Berlins zu sperren, würde das Gegenteil von Berlin bewirken, was gewünscht sei – nämlich nicht Ruhe, sondern Provokation. SPD und Grüne verhinderten damals mit ihrer Bundestagsmehrheit eine neue Bannmeile. Statt dessen verabschiedeten sie 1999 das „Gesetz über befriedete Bezirke für Verfassungsorgane des Bundes“. Damit sind rund um den Reichstag öffentliche Versammlungen grundsätzlich zugelassen, soweit sie die Tätigkeit der Verfassungsorgane nicht stören, was für die sitzungsfreie Zeit des Bundestages grundsätzlich angenommen wird. 

Inzwischen fordert die CDU, über schärfere Regelungen nachzudenken. Der Reichstag müsse „unantastbar“ sein, so Fraktionsvize Thorsten Frei. Und SPD-Geschäftsführer Carsten Schneider will die Einrichtung einer „Sicherheitszone“ prüfen lassen. Die Grünen sind kritisch: Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth wandte sich dagegen, das Parlament zum „Hochsicherheitstrakt“ zu machen.