© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/20 / 04. September 2020

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Dämpfen statt schrumpfen
Jörg Kürschner

Vernichtender konnte das Urteil über den Koalitionskompromiß zum Bundestagswahlrecht kaum ausfallen. Hausherr Wolfgang Schäuble (CDU): „Mich schmerzt, daß die Fraktionen keine Reform hinbekommen haben, die den Namen verdient“. Und dann ein typischer Schäuble: „Daß Parteivorsitzende, die nicht mal dem Parlament angehören, dann die Entscheidung verkünden, entspricht auch nicht gerade meinem Verständnis von parlamentarischer Demokratie“, ätzte der Rekord-Parlamentarier, der dem Bundestag seit bald 48 Jahren ununterbrochen angehört. 

Angesprochen fühlen durfte sich auch seine eigene Noch-Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer, die den im Kanzleramt mit der SPD vereinbarten Kompromiß sprachlich etwas unbeholfen als ersten „Dämpfungsschritt“ zu einer Verkleinerung des Parlaments rechtfertigte. Im Kanzleramt? Vergeblich hatte Schäuble in einer Reformkommission mit den Fraktionen um einen Kompromiß gerungen. In den Räumen des Bundestags! Dort wird bereits seit 2013 über eine Verkleinerung des Hauses diskutiert.

Nun soll ein Stufenmodell die Lösung bringen. Für die Wahl 2021 können Überhangmandate einer Partei teilweise mit ihren Listenmandaten verrechnet werden – unter Wahrung einer ausgewogenen Verteilung der Mandate auf die Bundesländer. Außerdem sollen bis zu drei Überhangmandate nicht mehr durch Ausgleichsmandate kompensiert werden, wenn die Regelgröße des Bundestags von 598 Sitzen überstiegen wird. Derzeit gehören ihm 709 Abgeordnete an. Bei der Zahl von 299 Wahlkreisen soll es bleiben, die erst 2025 auf 280 verringert werden sollen. Darauf hatte insbesondere die bayerische CSU gedrängt. Eine Kommission aus Wissenschaftlern und Abgeordneten soll bis spätestens Mitte 2023 Vorschläge unterbreiten. Beraten werden soll auch über eine Senkung des Wahlalters von 18 auf 16 Jahre, eine Verlängerung der Wahlperiode von vier auf fünf Jahre sowie über eine gleichberechtigte Repräsentation von Frauen und Männern auf den Kandidatenlisten des Bundestags.

Doch das ist Zukunftsmusik für ein neu gewähltes Parlament. Zunächst geht es für Union und SPD darum, die Opposition in ihren Minimalkompromiß einzubinden. Die Bedingungen dafür sind grottenschlecht, denn die Ablehnung könnte kaum größer sein. Die Linksfraktion strebt zusammen mit Grünen und FDP eine Klage gegen den Koalitionskompromiß an, über den in diesem Monat im Bundestag abgestimmt werden soll. Dieser mißachte das Grundprinzip des Wahlrechts, daß jede Stimme gleich viel wert sein müsse. 

Bestärkt in ihrem Widerstand gegen das Koalitionsvorhaben fühlt sich die Opposition auch durch die Kritik der Wissenschaft. Gewichtig ist das Urteil des Mathematikers Christian Hesse, da er zwei Jahre lang die Wahlrechts-Arbeitsgruppe Schäubles beraten hatte. Die vorgesehenen Schritte hätten nur „eine sehr schwache bremsende Wirkung“, sagte er. Mit der Absicht, bis zu drei Überhangmandate nicht auszugleichen, sei eine „verzerrende Wirkung“ verbunden. „Unter Fairneß-Gesichtspunkten ist das nicht zu begründen“.