© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/20 / 04. September 2020

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weißmann

Die Anti-Corona-Demonstration in Berlin am vergangenen Wochenende hat selbst übelwollende Berichterstatter irritiert durch die Heterogenität der Teilnehmer: vom braven Familienvater, der sich Sorgen um seine berufliche Existenz macht, über den ernsthaft Empörten bis zum linken Kapitalismus- und Regierungskritiker aus Passion, vom dauerempörten Leserbriefschreiber über den rechten Trittbrettfahrer, der eine Chance wittert, die nationale Revolution in Gang zu bringen, bis zum Verschwörungstheoretiker und offensichtlichen Spinner war alles dabei. Eine ältere Sozialpsychologie hat solche Erscheinungen unter dem Begriff der gesellschaftlichen „Verklumpung“ behandelt: Ausdruck der Verzweiflung angesichts des Gefühls der Desintegration, die nicht mehr nur den einzelnen als einzelnen betrifft, sondern das Ganze, das zu zerfallen beginnt, weshalb das Bedürfnis wächst, sich wenigstens irgendwo und aus irgendeinem Grund zusammenzufinden. Begleitet wird das in solchen Krisenzeiten praktisch immer von der Wahrnehmung, daß die Verantwortlichen entweder böswillig oder unfähig sind oder beides, und weder ihre Laxheit noch ihre Überreaktion beweisen etwas anderes.

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Mehr Essentialismus wagen!

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In der Nacht vom 9. auf den 10. August wurden 63 Grabstellen auf dem Friedhof des Pyrenäenstädtchens Lannemezan geschändet. Die Polizei konnte kurz darauf zwei junge Schwarzafrikaner festnehmen, die die Tat gestanden. Zur Erklärung gaben die beiden an, daß ein Magier aus Mali ihnen zu der Tat geraten habe. Sie wollten sich auf diese Weise von Christus lossagen und dem Teufel verschreiben, um endlich Karriere im Musikgeschäft zu machen. Die Frage der Richterin, ob sie die Tat wiederholen würden, bejahte einer der Angeklagten, allerdings mit der Einschränkung „… aber nicht in Frankreich. In Afrika ist das billiger, man kann die Gendarmen bezahlen. Hier machen sie Untersuchungen.“

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Nekrolog: Zu denjenigen, deren Tod von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt geblieben ist, zählt auch der israelische Historiker Zeev Sternhell. Er starb am 21. Juni in Jerusalem. Das Hinweggehen über dieses Datum ist um so unverständlicher, als Sternhells 1983 erschienenes Buch mit dem Titel „Ni droite – ni gauche“ („Weder rechts noch links“) nicht nur einen Meilenstein in der Forschungsgeschichte des Faschismus markiert, sondern auch erhebliche politische Debatten ausgelöst hat. Denn die Behauptung Sternhells, daß Frankreich nicht nur das Mutterland der Revolution, sondern auch das Mutterland des Faschismus gewesen sei, wurde von den Bürgerlichen bis zu den Sozialisten empört zurückgewiesen. Dabei hatte er im Grunde nichts anderes getan, als längst bekannte Elemente in der Vor- und Frühgeschichte des Faschismus neu anzuordnen. Was allerdings dazu führte, daß einige Denker, die man unanfechtbar ins Pantheon des Geistes aufgenommen glaubte (Ernest Renan zum Beispiel) und andere, die man wenigstens harmlos gemacht zu hoffen meinte (Maurice Barrès zum Beispiel) oder die die Linke gern für sich reklamiert hätte (Georges Sorel zum Beispiel), plötzlich als Protofaschisten erschienen, daß sogar der Eindruck entstehen konnte, Mussolinis Anspruch, mit dem Faschismus eine Modernisierung der Arbeiterbewegung herbeigeführt zu haben, Plausibilität zukam und von einer Gleichsetzung mit dem deutschen Nationalsozialismus keine Rede sein konnte. Der Verdacht (der tonangebenden Kreise) oder die Hoffnung (Armin Mohlers), daß diese Art der Auffassung einer rechtsrevolutionären Strömung auf inhaltliche Sympathie schließen lasse, ging allerdings fehl. Sternhell war und blieb ein – gemäßigter – Zionist und ein Mann der Linken, der im Grunde immer die Auffassung vertrat, daß das Projekt der Aufklärung gerade wegen der „ewigen Wiederkehr“ von Vitalismus, Kulturkritik und Nationalismus umso entschlossener vorangetrieben werden müsse.

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Die No-borders-Linke schweigt dröhnend angesichts des Entschlusses der spanischen Regierung, die Grenzsicherungen für Ceuta und Melilla – die Enklaven des Landes in Nordafrika – auf eine Höhe von zehn Metern zu bringen, um das Eindringen Illegaler zu verhindern. Aber wahrscheinlich liegt das nur daran, daß in Madrid eine Koalition aus Sozialisten und Podemos die Fäden in der Hand hat.

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Am 17. August haben Vertreter der polnischen und der ungarischen Regierung in Budapest ein Memorandum unterzeichnet, das die gemeinsame Unterstützung für verfolgte Christen als Schwerpunkt der Flüchtlingspolitik beider Länder festlegt.

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Der neuerdings als Selbstbezeichnung in Umlauf gekommene Begriff „people of color“ ist, wenn sonst nichts, dann rassistisch: darunter faßte die Verwaltung des Empire summarisch alle nichtweißen Untertanen in den Kolonialgebieten der britischen Krone.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 18. September in der JF-Ausgabe 39/20.