© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/20 / 04. September 2020

Wie von Engelschören gespielt
Literatur: Peter Schneiders Roman über das Leben des Komponisten Vivaldi
Eberhard Straub

Vivaldis Zyklus „Die vier Jahreszeiten“ gehört zu den populärsten und deswegen trivialisierten Konzertstücken der alten Musik. Die wenigsten, die mit dem Hauptthema des Frühlings von dem mißlichen Umstand abgelenkt werden sollen, keinen raschen Anschluß zu der gewählten Nummer zu bekommen, denken dabei an Antonio Vivaldi (1678–1741) oder an seine Heimat Venedig. Dieser große Komponist ist auch vielen nicht ganz ahnungslosen Melomanen weitgehend unbekannt.

Peter Schneider, der diesen venezianischen Meistersinger verehrt und Venedig liebt, möchte die Musik mit den Lebensumständen und der Zeit verbinden, die diesen Priester, der zugleich ein musikalisches Genie war, geprägt haben. „Vivaldi und seine Töchter“ , dieser „Lebensroman“, wie er im Untertitel sein Buch nennt, ist keine musikwissenschaftliche Biographie, es ist auch kein historischer Roman, sondern ein „Tatsachenroman“ mit ein paar erfundenen Interpretationshilfen, der zugleich auch von der Geschichte eines Drehbuches für einen Dokumentarfilm über Vivaldis Leben handelt, der dann doch nicht zustande kam.

Antonio Vivaldi ist fast so etwas wie das später im deutschen Sturm und Drang gefeierte „Originalgenie“. Sein Vater, ein brillanter Geigenvirtuose, war sein einziger Lehrer und später sein Geschäftspartner. Von der Familie konnte und wollte sich der Künstler und Priester nicht lösen. Eine gewisse Spannung zwischen dem Künstler, der viele Opern geschrieben hat, in denen menschliche Leidenschaften für nicht immer leicht übersichtliche Dramatik sorgen, und dem Geistlichen war unvermeidlich. Er weigerte sich alsbald, weil Asthmatiker, täglich die Messe zu lesen, weil das seiner Gesundheit nicht bekömmlich sei. Der Grund war allerdings weit mehr, daß er keine Berufung zum Priester verspürt hatte. Diese Vernachlässigung seiner Pflichten konnte ihn mit Bischöfen und Kardinälen in Schwierigkeiten bringen, die sich jedoch immer beheben ließen, obschon er im kirchlichen Dienst stand.

Er mußte sich auf dem freien Markt behaupten

Antonio Vivaldi leitete Chor und Orchester der Mädchen in dem Waisenhaus von Santa Maria della pietà, „seiner Töchter“ als Töchter dieser kirchlichen Einrichtung. Aus diesem Laienorchester, dem ersten, ausschließlich für Frauen bestimmt, machte er eine europäische Sensation. Sämtliche vornehme Touristen, die Venedig besuchten, kamen zu Vivaldis Konzerten, um dessen Werke zu hören. Ganz ungewöhnlich war es, daß Chor und Orchester auf der Empore hinter Eisengittern unsichtbar waren. Man hörte in der Kirche nur die Musik zu geistlichen Texten – die auf viele wie von Engelschören gesungen und gespielt wirkten. Las Vivaldi auch keine Messe, so war doch seine kirchliche Kunst durchaus Gottesdienst, zum höheren Ruhm Gottes aufgeführt, der die Schönheit ist. Der Glanz der göttlichen Schönheit offenbarte sich in der Musik, deren Sprache auch das Unsagbare auszudrücken vermag. Eine solche Theologie der Schönheit lehrte die Kirche, auf sie konnte sich der Komponist berufen, und mit ihr waren die Zuhörer vertraut.

Sie staunten, daß die göttlichen Stimmen nicht schönen Mädchen, sondern verletzten und entstellten gehörten, vom Leben gezeichneten. Der Körper war das unvollkommene Gefäß für die schöne Seele und die vollendete Harmonie des göttlich Wahren und Schönen. Die Spannung zwischen Priester und Künstler war bei solchen Konzerten aufgehoben.

Antonio Vivaldi war aber nicht nur Auftragskünstler im Dienst der Kirche und vorübergehend am Hof in Mantua für festliche Zwecke der Repräsentation, sondern auch als Opernkomponist ein freier Unternehmer, der sich auf dem Markt geschäftstüchtig behaupten mußte. Als Lieferant von Opern für das Teatro Sant’Angelo war er für Ausstattung und Besetzung und die finanziellen Angelegenheiten zuständig. Erfolg oder Mißerfolg hing mit Ausgaben, Einnahmen oder erheblichen Schulden zusammen. Der Priester mußte rechnen, an Gewinn denken, sich mit dem schnöden Mammon Freunde oder als reizbares Temperament Feinde verschaffen.

Der Priester, Künstler und Unternehmer geriet in vielerlei Konflikte. Die widerwärtigsten ergaben sich nicht aus der Abhängigkeit von der Kirche oder von einem Fürsten, sondern aus den Zwängen, die der freie Markt bereithält, und denen sich unterwerfen muß, wer Erfolg haben will.

Fürsten und Musiker suchten seinen Umgang

Antonio Vivaldi war lange Zeit erfolgreich, eine europäische Berühmtheit, mit der sich Kaiser Karl VI. in Triest – selber ein recht ordentlicher Komponist – länger und häufiger unterhielt  als mit hohen Beamten. Deutsche Fürsten und Musiker suchten seinen Umgang, was später für ihn und seinen Nachruhm wichtig war, weil sich in Dresden eine erhebliche Anzahl seiner Partituren befindet. Außerdem war es gerade Johann Sebastian Bach, der Werke Vivaldis für sich nutzte und großherzig darauf hinwies, diesem anderen zu folgen. 

Ein Privatleben konnte es unter diesen Voraussetzungen nicht geben, sofern man nicht die göttliche, sondern die irdische Liebe damit verbindet. Da er im vorgerückten Alter ab 1726 mit zwei Frauen, Paolina und Anna Girò, Wohnung und Leben teilte, mußte  es unweigerlich zu allerlei bösartigem Tratsch kommen, da die junge Anna seine bevorzugte Sängerin wurde. Es war eine prosaische Wirtschaftsgemeinschaft und ein zuweilen recht unruhiger Künstlerbund, Annas Karriere fest im Auge und ein volles Haus für seine Opern. Möglicherweise hat sich Anna mehr erwartet. Aber es blieb bei einer Seelenfreundschaft mit einigen Nervositäten der ehrgeizigen Primadonna.

Da es heute sehr schwer ist, für die Poesie platonischer Liebe, für das Glück übereinstimmender Gemüter, Verständnis zu wecken, erfindet Peter Schneider keinen Liebesroman, sondern spielt am Schluß mit der Idee, daß Anna Vivaldis uneheliche Tochter gewesen sei, diesen Einfall gleichsam wie eine der Überraschungen präsentierend, die in jeder Oper am Ende unvermeidlich waren. 

Das ist ein bloßer Operneinfall, auf die auch Drehbücher nicht verzichten können. Vivaldis Lebensabend war unruhig genug, weil das Publikum in Venedig allmählich seiner Opern überdrüssig wurde und ihm die Schulden über den Kopf wuchsen. Offenbar floh er deswegen unbegleitet aus Venedig 1740 und starb in Wien im Jahr darauf verlassen und verarmt. Nach dem Tode Kaiser Karls VI.1740 und im Österreichischen Erbfolgekrieg gab es vorerst keine Aussichten auf künstlerische Tätigkeit und ein passables Einkommen. Er blieb lange vergessen und wurde erst wieder im 20. Jahrhundert berühmt. Es war unter anderem ein heute umstrittenes Originalgenie, der Dichter Ezra Pound, der sich in Italien ab 1937 energisch dafür verwandte, Vivaldi wieder aufzuführen.  Vielleicht wird das einmal die notwendige Anerkennung finden und nun dessen Nachruhm Dauer verleihen. 

Peter Schneider: Vivaldi und seine Töchter. Roman eines Lebens. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020, gebunden, 287 Seiten, 20 Euro