© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/20 / 04. September 2020

Ein Pogrom im Schatten der Hagia Sophia
Im September 1955 fanden in Istanbul Ausschreitungen gegen die griechische Minderheit statt / Türkische Regierung griff erst spät ein
Erich Körner-Lakatos

Der September 1955 war eine Zeit des Grauens für eine Gruppe, die für sich die stolze Bezeichnung Rhomäer (Römer) in Anspruch nahm, Nachfahren aus Konstantinopel, dem Mittelpunkt Ostroms, zu sein. Es handelte sich um rund 150.000 Griechischstämmige, die sich um ihr Oberhaupt, den Ökumenischen Patriarchen im nordwestlichen Istanbuler Stadtteil Phanar, scharten. Die Türken bezeichneten sie schlicht als Rums.

Griechen durften auch nach 1922 in Istanbul bleiben

Im Unterschied zu den Armeniern und Pontus-Griechen an der Südküste des Schwarzen Meeres blieben die Rhomäer von Ermordungen und Vertreibungen während und nach der Zeit des Ersten Weltkriegs verschont. Nach Atatürks militärischem Sieg gegen die Griechen im August 1922 aber gingen auch die Rhomäer einem ungewissen Schicksal entgegen. Doch abermals hatten sie Glück: Der Vertrag von Lausanne beinhaltete einen Bevölkerungsaustausch, der anderthalb Millionen Hellenen aus Anatolien heimatlos machte. Einzig für die Griechen Istanbuls erreichten die Unterhändler aus Athen eine Ausnahme, gemäß Artikel 40 des Friedensvertrages durften die 70.000 Rhomäer in ihrer angestammten Umgebung bleiben.

An der Jahreswende 1942/43 gerieten die Griechen allerdings ins Visier eines Sondergesetzes des Atatürk-Nachfolgers Ismet Inönü. Unter Mißachtung des Laizismus, einem der kemalistischen Grundsätze, verfügte die Regierung eine einmalige Vermögensabgabe, die Varlik Vergisi, für alle nicht-muslimischen Bürger. Wer die recht willkürlich bemessene Summe binnen zweier Wochen nicht aufbringen konnte, dessen Hab und Gut verfiel dem Staat. 

Doch 1955 kam es ungleich schlimmer. Istanbul, damals eine Stadt mit etwa einer Million Bewohnern, war die Heimat von inzwischen weit über einhunderttausend Rhomäern. Außerdem siedelten hier weitere Volksgruppen: Spanische Juden, Armenier, die trotz aller Drangsal nicht von ihrer Vaterstadt lassen wollten, schließlich ein paar tausend zarentreue Russen, die sich im November 1920, am Ende des russischen Bürgerkriegs, als Reste der geschlagenen weißen Armeen unter General Peter Wrangel von der Halbinsel Krim nach Istanbul retteten. 

Am 5. September brachten Lastwagen viele junge Männer in die Stadt der Hagia Sophia. Unauffällig verteilten sich die eher einfach wirkenden Gestalten auf diejenigen Gebiete, in denen die Minderheiten ihre Geschäfte und Werkstätten betrieben. Am darauffolgenden Tag verbreiteten alle Zeitungen die Nachricht von einem Bombenanschlag auf Kemal Atatürks Geburtshaus in Saloniki. Der staatliche Rundfunk bestätigte um 13 Uhr die Meldung. Empörung keimte auf. 

Plötzlich begannen die angekarrten Schlägertrupps Schaufenster einzuschlagen, verprügelten Kaufleute, die dagegen protestierten. Sie drangen johlend in Geschäfte ein, warfen alles auf die Straße. Besonders betroffen war die bekannte Einkaufsstraße Istiklal. Der Mob schwenkte dazu türkische Flaggen. Plünderer nutzten die Gunst der Stunde. Knüppel schlugen pausenlos zu, orthodoxe Mönche zerrte man an ihren Bärten durch die Straßen. Ein 90jähriger verbrannte bei lebendigem Leibe. 

Nirgends war Polizei zu sehen. Dafür leisteten viele alteingesessene Türken der Stadt erste Hilfe, versteckten ihre christlichen Nachbarn, besonders Frauen und Mädchen. Erst nach Mitternacht griffen Ordnungskräfte ein, zügelten die außer Rand und Band geratenen Fanatiker, die gerade Leichname griechischer Patriarchen aus den Gräbern holten und schändeten. Bilanz der Ausschreitungen: sechzehn Morde, zwei Dutzend Schwerverletzte, Hunderte Vergewaltigungen. 73 Kirchen entweiht, 4.383 Geschäfte verwüstet, über tausend Häuser zerstört.

Die Regierung des Premiers Adnan Menderes dekretierte, der Volkszorn sei die Antwort auf den Anschlag in Saloniki. Nach Jahren kommt die Wahrheit ans Tageslicht, denn da bestätigte General Sabri Yirmibesoglu, Vorsitzender des Kriegssonderamtes: Die Ereignisse des 6./7. September gingen auf unser Konto. 

Proteste oder Sanktionen des Westens blieben aus

Sanktionen aus dem westlichen Ausland brauchte Ankara nicht ins Kalkül zu ziehen, standen doch die USA treu zur Türkei. Nach dem Zweiten Weltkrieg half Washington dem Land gegen Stalins Ansprüche. Der wollte die Provinz Kars, die die Türkei im Türkisch-Armenischen Krieg 1920 eroberte und schließlich von Lenin mit dem Vertrag von Kars 1921 an Atatürk abgetreten wurde, der Sowjet-union angliedern. Doch die US-Amerikaner, zu diesem Zeitpunkt noch die einzige Atommacht, wollten eine weitere Machtausdehnung Stalins nicht dulden und reagierten mit einer Drohgebärde, indem sie im April 1946 den gewaltigen Flugzeugträger Missouri, das Flaggschiff der US-Flotte, als Solidaritätsgeste nach Istanbul schickte. 

Ankara sollte sich einige Jahre später dafür im Koreakrieg revanchieren. Die Türkei war eine von sechzehn Nationen, die Truppen in den Süden Koreas entsandten. Die Türkische Brigade, 5.000 Mann unter dem Befehl von Brigadegeneral Tahzin Yazici, ging im Oktober 1950 bei Pusan an Land und sollte sich als Teil der 25. US-Division über alle Maßen gut schlagen. Am 18. Februar 1952 wird die Türkei schließlich Nato-Mitglied, gegen den Widerstand Athens und dessen Protektor London. Übrigens spricht sich auch Dänemark gegen einen Nato-Beitritt der Türken aus. Der Hintergrund: Die griechische Dynastie ist dänischer Abstammung, daher existiert eine alte Verbundenheit zwischen Athen und Kopenhagen.