© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/20 / 04. September 2020

Gleichheit gibt es nur vor Gott
Klaus Kunze beklagt den heutigen Egalitätswahn
Werner Olles

Wenn die Restbestände von Vernunft und Individualität verschwinden, die als Korrektiv das Schlimmste verhüten können, dämmert die Stunde des Gleichheitswahn, des Egalitarismus. Daß die absolute Gleichheit das exakte Gegenteil von Freiheit bedeutet, die Gleichheitsforderung geradezu deren geschworene Feindin ist, arbeitet Klaus Kunze in seinem neuen Buch sehr klar heraus. So setzen sich die linken, sozialistischen und teilweise auch rechten Gleichheitsforderer nicht nur über das Realitätsprinzip hinweg, sondern schreiten inzwischen als avantgardistische Bekenner zur Tat „auf deutschen Regierungsbänken und in Parlamenten, besetzen Lehrstühle im staatsfinanzierten Hochschulbetrieb und Intendantensessel der Medienanstalten“. 

Die Repräsentanten des vermeintlichen anständigen Deutschland operieren dabei mit der Unterstellung, daß Identität bereits „Ausgrenzung“, „Abschottung“ und letztlich „Rassismus“ bedeute. Zu differenziertem Denken sind sie nicht fähig. So bedeutet gegen die unkontrollierte Aufnahme von Hunderttausenden kulturfremder „Flüchtlinge“ zu sein noch lange nicht, sie umbringen zu wollen, und unverantwortliche Politiker scharf zu kritisieren hat nichts mit rassistischen Vernichtungsphantasien zu tun. Die Schimpfreden sogenannter Wutbürger haben vielmehr damit zu tun, daß diese nicht gleich sein wollen, sondern ihre Identität bewahren und somit ihre menschliche Würde. 

„Empirisch und faktisch sind alle Menschen verschieden“, schreibt der Autor und verweist auf die Transzendenz-Metaphysik, die man einst „Gleichheit vor Gott nannte“. Mit dem Verlust des Glaubens trat an die Stelle Gottes der Mensch, seitdem gilt Gleichheitsfanatikern „die Argumentations- und Denkstruktur radikal egalitärer Metaphysiker und radikal völkischer Metaphysiker als identisch“, was die postproduktive Klasse nur allzu gerne hört: Adorno für die Volksgemeinschaft. 

Kunze nennt diese Denkstruktur eines abrißunternehmerischen Selbst „Normativismus“, doch ist die Schlußfolgerung, „in jedem gemeinschaftsbezogenen Denken rechte Metaphysik zu erblicken“ im Grunde nichts weiter als patentierte Pathologie, die die Bereitschaft bezeugt, politische Wahngebilde als Normalität anzuerkennen.

Klaus Kunze: Identität oder Egalität. Vom Menschenrecht auf Ungleichheit. Lindenbaum Verlag, Beltheim-Schnellbach 2020. gebunden, 168 Seiten, 18 Euro