© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/20 / 04. September 2020

Bio aus der Kiste
Versandmärkte für Öko-Lebensmittel zeigen Herz für extravagante Möhren und länger lebende Forellen
Martina Meckelein

An den runzligen Kartoffeln klebt noch die Erde, aus der sie geklaubt wurden. Hübsch sortiert in einer Pappschachtel liegen die Eier der Hennen, deren Schnäbel nicht gestutzt und deren Brüder nicht geschreddert wurden. Wer diese Produkte kauft, ist die Nachhaltigkeit in Person, das wandelnde gute Gewissen. Und damit machen Anbieter von Öko-Produkten Appetit und Kasse im Internet. Die Selbstvermarktung ökologisch hergestellter Produkte findet immer mehr Anhänger. Wichtig dabei sind Moral, Haltung und ein Herz – selbst für gehandicaptes Gemüse. Entschlossen schütteln Jungbauern das angestaubte Image der Ökobauern mit Zottelbart und Norwegerpulli ab und verschicken ihre Überzeugungen mit Hilfe des Internets und der Post in die Welt. Ein Grund, sich einmal auf dem Versand-Markt der Bio-Lebensmittel umzuschauen.

„Wirklich zu empfehlen sind die Marktschwärmer“, sagt eine Kundin, die durch Zufall vor Monaten auf die Internetseite stieß, gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. Die Idee dahinter: Auf der Netzseite bestellt der Kunde Fisch, Fleisch, Gemüse oder Obst direkt beim Hersteller aus der Region. Zugegeben, Schnäppchen sind hier nicht zu holen. Dafür allerdings ausgefallene Dinge. In einer „Schwärmerei“ (der Abholpunkt) im Westen Berlins werden Pickles vom Japanischen Knöterich in Olivenöl, 100 Gramm für 5,90 Euro das Glas, angeboten. Oder Büffel Roster im 2er und 3er Set: Für 280 Gramm Würstchen zahlt der Kunde 4,95 Euro. Die Tiere lebten, bis sie im Fleischwolf endeten, übrigens in Sachsen. Das sind immerhin, so die Marktschwärmer-Internetseite, 180 Kilometer von Spandau entfernt. Regional ist eben relativ.

Der Kunde bezahlt die Ware zwar vorab online, holt sie aber am Standort der Marktschwärmerei persönlich beim Erzeuger ab. „Bauer to the People!“ heißt so auch das Motto. „Das Prinzip ist für mich als Angestellte einfach besser als ein Bauernmarkt, der meist zu Zeiten geöffnet hat, während denen ich arbeite“, sagt die Frau. „Und ich habe hier die Sicherheit, daß mir alle Wünsche erfüllt werden.“ Die Produzenten wiederum müssen nur die bestellte Ware transportieren. Rückläufe, die sie womöglich am Ende des Verkaufstages nicht mehr loswerden und an den folgenden Tagen nicht mehr anbieten können und die somit im Müll landeten, gibt es nicht mehr. Eine Vorgehensweise, das muß man konstatieren, die jede lebensfrohe Forelle begrüßen wird.

Online-Handel nimmt insgesamt zu

Ein anderes Konzept verfolgt der Anbieter Etepetete. Hier gibt es kein 08/15-Gemüse. Denn das Bio-Gemüse und -Obst aus ganz Europa entspricht keiner DIN-Norm. So können die Möhren drei Beine haben und die Avocados zu klein sein. „Extravagantes Aussehen“ nennen das die Anbieter. Dafür werden sie kostenlos in einem braunen Pappkarton angeliefert und wandern, doch eher als gehandicaptes Früchtchen, auf den Teller und nicht auf den Müll. Als Kunde kann man zum Beispiel eine Bio-Box Classic – sie ist die billigste – für 21,90 Euro bestellen, die kostenlos nach Hause geliefert wird. Was die Box enthält, bestimmt, so verheißt es die Netzseite, die Natur. Zugegeben, nicht jeder mag dem Charme des Überraschungsmomentes erliegen.

Auch der Onlinehandel der großen Ketten mit Lebensmitteln, wie Rewe, Mytime oder Amazon Fresh nimmt Fahrt auf. Foodwatch stellte schon 2017 fest: „So wuchs der Onlinehandel mit Lebensmitteln in Deutschland in den Jahren 2015 und 2016 zwar durchschnittlich um gut 21 Prozent, hat aber insgesamt lediglich einen Anteil von einem Prozent am Gesamtumsatz mit Lebensmitteln.“ Prognostiziert werden allerdings Steigerungen des Online-Handelsvolumen bis 2025 um das Doppelte.

Wobei der Deutsche bekanntlich beim Essen knausert. Laut Statista geben deutsche Haushalte rund 14 Prozent ihrer Konsumausgaben für Nahrungsmittel, Getränke und Tabak aus. Ein Anteil, der seit 20 Jahren konstant bleibt. Das sah vor einhundert Jahren ganz anders aus, damals betrug der Lebensmittel-Anteil an den Konsumausgaben 57 Prozent. So erklären sich dann auch die Rezepte der berühmten Kochbuch-Verlegerin Mary Hahn, die oftmals mit dem Satz begannen: „Man nehme ein Dutzend Eier …“

Vor dem pekuniären Hintergrund scheint die Behauptung von Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) doch immerhin gewagt, der bei der Vorstellung des neuen Bio-Aktionsplans am 7. Juli 2020 sagte, die Beschäftigung mit dem Klimawandel oder dem Verlust der Artenvielfalt würde die Kaufentscheidung immer stärker beeinflussen. Unverdrossen haben sich nun die Grünen im Ländle das Ziel gesetzt, in den nächsten zehn Jahren 30 bis 40 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche nach den Regeln des ökologischen Landbaus bewirtschaften zu lassen.