© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/20 / 04. September 2020

Der Flaneur
Mit wem redet der?
Elke Lau

Vor vielen Jahren las ich eine Erzählung über eine ganz normale Familie. Vater, Mutter, der vierjährige Sohn Julian und seine sechsjährige Schwester Verena. Der Junge liebte sein Kopfkissen abgöttisch, nannte es „Wuwu“ und schleppte seinen Gefährten ständig mit sich herum. Er redete mit ihm in einer seltsamen Sprache und wollte sogar sein Essen mit ihm teilen. Nach anfänglichen Protesten tolerierten die Eltern den Spleen. Irgendwann gehörte Wuwu zur Familie.

Nur Verena wurde so eifersüchtig, daß sie eines Tages wütend auf dem Kissen herumtrampelte. Die genervte Mutter schimpfte: „Verena, laß` Wuwu in Frieden, du tust ihm weh.“ Filmklassiker und Harald Juhnkes Theaterstück „Mein Freund Harvey“ lassen grüßen.

Als mich mein Sitznachbar mustert, reiße ich mich zusammen.

Heute werde ich plötzlich an diese Episoden erinnert, als ich an einer Haltestelle am Kurfürstendamm Ecke Wielandstraße auf meinen Bus warte. Gleich daneben befindet sich eine Bank, auf der soeben ein großgewachsener, gutgekleideter Mann mit Hut Platz nimmt. Er wendet sich an seinen Nebenmann, redet lautstark auf ihn ein und bietet ihm schließlich seine Trinkflasche an. Der Angesprochene lehnt wohl ab, denn der Hüne droht ihm lachend mit dem Zeigefinger, ehe er sich selbst bedient.

Einige Minuten vergehen, in denen ich mich nicht von der Szenerie lösen kann. Passanten defilieren vorbei, niemand nimmt Notiz. Langsam zweifle ich an meinem Verstand, denn ich sehe keine zweite Person. Inzwischen ist der Bus eingetroffen. Von meinem Fensterplatz werfe ich einen letzten Blick auf die Bank. Der Mann ist inzwischen aufgestanden, steht wild gestikulierend vor seinem „Gesprächspartner“ und verbeugt sich immer wieder. Anscheinend zum Abschied.

Vielleicht sitzt dort tatsächlich jemand, und ich habe nur nicht richtig hingesehen? Als mich mein Sitznachbar immer wieder mustert, reiße ich mich zusammen und höre mit dem ständigen Kopfschütteln auf.