© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/20 / 11. September 2020

Lesereinspruch

Bismarcks Erbsünde

Zu: „Die große deutsche Revolution“ von Karlheinz Weißmann (JF 36/20)

Bei aller Begeisterung für Bismarcks Reichsgründung darf dessen großer Fehler nicht unerwähnt bleiben, der um so bedauerlicher ist, als es Bismarck ja nicht nur um Preußen und Deutschland ging, er vielmehr auch für Europa insgesamt durch geschickte Förderung von Bündnissen um Gleichgewichtswahrung bemüht war. 

Gemeint ist die Kaiserproklamation am 18. Januar 1871, die er ohne Bedenken im Versailles des eben niedergerungenen „Erzfeindes“ vorgenommen hat – eine ausgesprochene Provokation Frankreichs, welche zu rächen die Franzosen beim Bau der Sacré-Cœur-Kathedrale auf dem Montmartre geschworen haben und wozu sie 1919 die ersehnte Gelegenheit fanden. Jede (selbst kleinste) deutsche Kaiserpfalz – etwa Worms oder Speyer – wäre für die Gründung des Zweiten Deuschen Kaiserreichs geeigneter gewesen! Daher darf bei Erwähnung des für uns Deutsche so schmach- und schmerzvollen „Versailles 1919“ (und zumal seiner furchtbaren braunen Folgen für Deutschland und ganz Europa vor nun über 75 Jahren) das „Versailles 1871“ niemals in Vergessenheit geraten.

Hans-Gert Kessler, München