© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/20 / 11. September 2020

„Verwandt mit Karl dem Großen“
Der Trend zur Hobby-Genealogie ist seit Jahren ungebrochen. Und so mancher stößt dabei auf überraschende Persönlichkeiten unter seinen Ahnen. Was die Menschen daran fasziniert und wie man einsteigt, erklärt Herbert Stoyan, Ex-Vorsitzender des Dachverbandes DAGV
Moritz Schwarz

Herr Professor Stoyan, der Boom der Ahnenforschung hält seit Jahren an. Woran liegt das?

Herbert Stoyan: Sie scheint etwas zu sein, das Menschen einfach beschäftigt. Wobei ich glaube, daß der Boom irgendwann auch nachläßt. Ebenso wie das Interesse danach aber auch wieder anziehen wird. Das sind Wellenbewegungen.

Womit hängt das zusammen?

Stoyan: Wegen des Nationalsozialismus galt Ahnenforschung in der Nachkriegsgeneration manchen als diskreditiert. Inzwischen lebt aber schon deren Enkelgeneration, die das kaum noch so sieht. Dazu kommt als wichtiger Faktor: Freizeit! Da der moderne Mensch reichlich davon hat, widmen sich viele mit großem Engagement einem ernsthaften Hobby, wie Lokalgeschichte, Hobby-Astronomie oder eben Genealogie.

Ist vielleicht ein Grund die Identiätskrise des Menschen in der modernen Welt? 

Stoyan: Das sehe ich nicht so, denn Genealogie wird ja schon seit Jahrhunderten getrieben.

Ja, vom Adel, aus dynastischen, also politischen Gründen. Wir aber sprechen von der bürgerlichen Ahnenforschung. 

Stoyan: Auch die reicht bis ins Spätmittelalter zurück, als Patrizierfamilien großen Aufwand trieben, um ihre Familiengeschichte zu ermitteln und in prächtigen Familienbüchern zu präsentieren. 

Lange brachten ehrwürdige Ahnentafeln eben auch bürgerlichen Familien Prestige, was jedoch heute nicht mehr der Fall ist. 

Stoyan: Aber die Leute erkennen, daß das etwas sehr Interessantes ist, das erstens mit ihnen selbst zu tun hat. Zweitens, mit dem sie etwas Bleibendes schaffen können. 

Was meinen Sie? 

Stoyan: Mit Ahnenforschung assoziieren wir meist nur die Vergangenheit. Doch das ist zu kurz gedacht! Denn was schaffen Sie, wenn Sie einen genealogisch profunden Beitrag zur Erforschung Ihrer Familiengeschichte leisten? Etwas für die Zukunft! Etwas mit Bestand! Etwas, für das sich, wenn nicht schon Ihre Kinder, dann Ihre Enkel oder deren Kinder einmal interessieren werden. Etwas, auf das Ihre Nachkommen immer wieder zurückgreifen, selbst noch in hundert Jahren. In meiner Familie etwa stammt der älteste Beitrag von meinem Vorfahren, Pfarrer Georg Wilhelm Backe aus Pommern, der im 18. Jahrhundert lebte und dessen Buch über unsere Familiengeschichte wir heute noch nutzen. 

Sind Sie so zur Genealogie gekommen?

Stoyan: Ich habe das Interesse daran von meiner Mutter geerbt und die hatte es von ihrem Vater. Ahnenforschung hat in unserer Familie Tradition.  

Angeblich läßt sie sich bis zu Karl dem Großen zurückverfolgen. Ist das nicht Legende?

Stoyan: Nein, und es ist auch gar nicht so besonders, Karl den Großen zu seinen Vorfahren zu zählen. Heute leben schätzungsweise mindestens eine Million Nachfahren Karls – schwierig ist oft der Nachweis.

Eine Million?

Stoyan: Überraschend ist das nur für jene, die nicht wissen, daß er zahlreiche Kinder zeugte sowie was exponentielles Wachstum ist: nämlich, daß sich zum Beispiel eine Zahl bei jedem Rechenschritt verdoppelt. Und eine Million ist noch äußerst konservativ geschätzt, wahrscheinlich sind es sehr viel mehr. 

In bürgerlichen Stammbäumen tauchen mitunter Namen berühmter Persönlichkeiten auf. Sind solche Stammbäume nicht nachträglich „veredelt“?

Stoyan: Nein, unrealistisch ist so etwas keineswegs. Natürlich gibt es aber auch den Ahnenschwindel, und solche Verwandtschaften müssen zu belegen sein. Aber oft sind sie tatsächlich gegeben.

In meiner Familie sind es laut Ahnenbuch Friedrich Schiller und Kaiser Wilhelm.

Stoyan: Als Vorfahren kann ich mir das überhaupt nicht vorstellen, als Verwandte ist es gut möglich. Und nicht jeder, aber so mancher würde sich wundern, wen er in seinem Stammbaum entdeckt, würde er ihn nur mal erforschen. 

Woher kommt es, daß es gar nicht so selten ist, einen oder mehrere Berühmtheiten unter seinen Verwandten zu haben?

Stoyan: Verwandtschaft bedeutet gemeinsame Vorfahren. Berechnet man auf Grundlage der Anzahl der Menschen heute die Anzahl aller unserer Vorfahren, kommt man auf eine astronomische Zahl. Denn jeder von uns hat zwei Eltern, vier Großeltern, acht Urgroßeltern, sechzehn Ururgroßeltern etc. Nach 21 Generationen sind Sie da schon über einer Million. Und zwischen uns und Karl dem Großen liegen etwa vierzig Generationen! Wir wissen aber, daß damals nur ein Bruchteil der so berechneten Anzahl an Menschen gelebt hat. Die Lösung des Rätsels ist, daß wir Menschen heute weniger Ahnen haben, dafür viele mehrfach. Diesen Effekt nennt man Ahnenschwund.

Sie meinen etwa, nominell sind meine Großeltern und Ihre Großeltern zusammen acht Personen. Haben wir aber gemeinsame Großeltern sind es nur sechs oder vier.

Stoyan: Eben. Das erklärt auch, warum relativ viele Menschen mit Berühmtheiten verwandt sind. Weil alle Menschen einer Volksgruppe in relativ hohem Maße miteinander verwandt sind, da wir von einer vergleichsweise kleinen Zahl Vorfahren abstammen. 

Die Deutschen etwa sind dann tatsächlich in hohem Grade miteinander verwandt?

Stoyan: Ja, aber nicht nur die Deutschen, das gilt für jedes Volk und ebenso für die Europäer, Araber, Chinesen etc. Aber „hoch“ bedeutet auch, daß die Verwandtschaft sehr weitläufig sein kann.

Wenn Völker tatsächlich auch Verwandtschaftsgemeinschaften sind, warum wird dann oft behauptet, es gäbe sie nicht, sie seien lediglich politische Konstruktionen? 

Stoyan: Da sind wohl vor allem politische Motive am Werk, die aus der Erfahrung des Nationalsozialismus resultieren. Der seinerseits ja aus politischen Motiven „Volk“ überhöht und eine Hierarchie der Völker behauptet hat. Tatsächlich aber ist kein Volk mehr wert als ein anderes. 

Wie können Völker geleugnet werden, wenn sie sich wissenschaftlich belegen lassen? 

Stoyan: Wenn wir das nun debattieren wollten, müßten wir uns erstmal auf eine Definition von „Volk“ einigen. Sicherlich würde für diese aber die Verwandtschaftsgemeinschaft eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Doch abgesehen davon: Ich bitte Sie, in der Politik werden auf vielen Gebieten und von allen Seiten gerne mal Zahlen und Fakten ignoriert oder geleugnet. Das ist nichts Besonderes. Aber das Ganze führt uns von unserem Thema weg. 

Sie waren dabei zu schildern, daß es Ahnenforschung ermöglicht, etwas an nachfolgende Generationen weiterzugeben.

Stoyan: Zwar gelingt das vereinzelt auch auf anderen Gebieten, so hat zum Beispiel der eine oder andere Hobby-Astronom schon etwas Wichtiges beobachten können. Aber den allermeisten Menschen bleibt das versagt. Was glauben Sie, wird man in zweihundert Jahren noch von Ihnen wissen?

Sicherlich nichts.

Stoyan: Eben. Sollten Sie darauf aber Wert legen, empfehle ich Ihnen, einen Beitrag zur Rekonstruktion Ihrer Familiengeschichte zu leisten. Sie können sicher sein, daß sich, wenn Ihr Beitrag gut ist, Ihre Nachkommen auch im Jahr 2220 noch Ihrer erinnern und Ihre Arbeit lesen werden. Auf welchem anderen Gebiet kann man sonst schon vergleichsweise einfach etwas schaffen, das in zweihundert Jahren noch von Bedeutung ist? 

Ahnenforschung als Weg zu „Unsterblichkeit“? 

Stoyan: Ganz sicher hat das Interesse daran auch mit der Sehnsucht nach Transzendenz zu tun. Wir Menschen sehnen uns danach, etwas zu schaffen, das über den Tod hinausreicht. Unsere Kinder werden, hoffen wir, nach unserem Tod noch leben und an uns denken. Und auch Ahnenforschung kann dazu beitragen. 

Wie packe ich das Thema als Anfänger nun also an? 

Stoyan: Wichtigste Voraussetzung: Sie müssen kommunikativ sein und auch um Hilfe bitten können. Ist das nicht der Fall, haben Sie es schwer! Denn das erste, was der Anfänger tun sollte, ist die gesamte Verwandtschaft zu befragen – wozu auch Menschen gehören, die Sie vorher gar nicht kennen. Haben Sie sämtliche Verwandte ausgequetscht, muß als nächstes das gesammelte Wissen belegt werden. Dazu müssen Sie an Standesämter, Kirchengemeinden und Archive schreiben und für alle Personen und Daten Belege besorgen. Mit etwas Glück kommen Sie so im Laufe der Arbeit zurück bis zum Dreißigjährigen Krieg. Dann ist oft Schluß, weil in dessen Wirren viele Dokumente verlorengegangen sind. Außerdem hat man erst in den Jahrzehnten vor dem Dreißigjährigen Krieg begonnen, Kirchenbücher zu führen, die heute eine der wichtigsten Quellen für Personendaten sind. Manche Familienforscher aber kommen auch noch weiter – wie zum Beispiel meine Familie. 

Lupold von Lehsten, damals Leiter des Instituts für Personengeschichte, sagte in dieser Zeitung, der Ahnenforschungsboom hänge auch mit Verbreitung der Personal Computer in den neunziger Jahren zusammen. 

Stoyan: Ja, das Internet etwa spielt eine große Rolle, da es Zugriff auf viele Archive und Kirchenregister erlaubt. Während man früher mitunter weit anreisen mußte und nur zu bestimmten Öffnungszeiten Einsicht nehmen konnte, kann heute jeder nach der Arbeit noch ein, zwei Stunden vom Wohnzimmer aus online recherchieren. So stellen sich natürlich oft schnell erste Erfolge ein. Der zweite große Fortschritt durch die Digitalisierung betrifft das Verwalten der Daten. Früher wurden die Daten jeder Person auf eine Karteikarte notiert, was schnell unübersichtlich werden konnte. Heute kann man seine recherchierten Informationen ganz leicht mit einem Programm verwalten. Das geht nicht nur einfacher und schneller, sondern ist auch sicherer, etwa weil sich nicht mehr verwirrend viele Streichungen auf Karteikarten häufen – immer wenn man eine überholte Information überschrieben hat. Und weil zum Beispiel Schreibfehler gleich auffallen, die sich etwa bei Namen leicht einschleichen – was mit etwas Pech zu erheblicher Konfusion führen kann. Und drittens ist die Vernetzung per Computer und Verfügbarkeit hochauflösender Bildschirme sehr hilfreich, um seine Ergebnisse anderen Forschern mitzuteilen. 

Muß man sich also auf jeden Fall ein Genealogie-Programm kaufen? 

Stoyan: Das kommt darauf an. Wer nur einen kleinen Stammbaum hat, kriegt das auch ohne Computer hin. Haben Sie aber viele Ahnen, ist so eine Software eine fast unverzichtbare Hilfe. 

Es gibt mittlerweile etliche kommerzielle digitale Dienstleister im Bereich Ahnenforschung: Nepp oder notwendig?

Stoyan: Natürlich gibt es auch schwarze Schafe, aber viele Angebote sind seriös. Allerdings Vorsicht: Oft buchen Anfänger im ersten Eifer Dienste, die sie noch gar nicht brauchen, weil sie ja erstmal auf niedrigem Niveau einsteigen. Das Problem ist, daß Neulinge noch nicht überschauen können, was für sie tatsächlich brauchbar ist. Am besten erstmal etwas ins Thema einarbeiten und Erfahrung sammeln.

Beliebt ist inzwischen die DNS-Analyse, mit der man ermitteln kann, aus welchen Ländern die eigenen Gene kommen. Hat das die Ahnenforschung revolutioniert?

Stoyan: Nein, und eine Genanalyse machen zu lassen ist auch noch keine Ahnenforschung. Die beginnt erst, wenn Sie dann mit dem Ergebnis arbeiten. Immerhin hat die Genanalyse aber zu einem neuen Zweig in der Ahnenforschung geführt, denn bisher gab es: Die Stammbaumforschung, bei der von der Gegenwart aus ein Stammbaum in Richtung Vergangenheit erforscht wird. Die Nachkommenforschung, bei der man von einem bestimmten Vorfahren aus dessen Nachkommen in Richtung Gegenwart rekonstruiert. Sowie die namenbasierte Familienforschung, bei der man versucht, alle Träger eines bestimmten Namens, eventuell weltweit, zu ermitteln. Und nun ist die DNS-Forschung dazugekommen, bei der man alle Träger verwandten Erbguts ermitteln will. Selbst wenn diese sich schon vor Jahrhunderten von der Familie getrennt haben. So kann man übrigens eventuell auch verschwiegene Verwandte entdecken, zum Beispiel uneheliche Kinder von Vorfahren, von denen die Familie nie erfahren hatte, oder Nachkommen von dokumentarisch nicht belegten Vorfahren. Sie sehen also, welche Überraschungen die Ahnenforschung bereithalten kann und warum viele, wie ich, nicht mehr davon lassen können.






Prof. Dr. Herbert Stoyan, war von 2009 bis 2012 Vorsitzender des Dachverbands DAGV (Deutsche Arbeitsgemeinschaft Genealogischer Verbände). Der Informatiker lehrte an den Universitäten Konstanz, Darmstadt und Erlangen und baut seit 1994 eine genealogische Datenbank des europäischen Adels auf: Abgespeckt ist „WW-Person“ im Internet zu finden, vollständig als CD im Degener-Verlag zu kaufen. Geboren wurde der Sproß einer Berliner Familie 1943 kriegsbedingt in Schlesien. 

Foto: Ahnenforschung heute: „Die meisten assoziieren damit Vergangenheit. Doch das ist zu kurz gedacht! Wenn Sie einen profunden genealogischen Beitrag zur Erforschung Ihrer Familiengeschichte leisten, dann schaffen Sie etwas für die Zukunft, etwas das Ihre Kinder (und) Enkel interessiert und auf das Ihre Nachkommen noch in hundert Jahren zurückgreifen werden“


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