© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/20 / 11. September 2020

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Vorschrift fürs Volk
Paul Rosen

Ein gutes halbes Jahr nach dem Beginn der Corona-Pandemie hat der Bundestag zu drastischen Maßnahmen gegriffen. Per Hausmitteilung 222/2020 gab die Verwaltung des Parlaments die „dringende Empfehlung“, ab September in dessen Liegenschaften eine Mund-Nasen-Bedeckung (Maske) zu tragen. Was in jedem Laden und in jedem Verkehrsmittel schon lange Pflicht für jeden Kunden ist, galt in den Bundestagsgebäuden bisher ausdrücklich nicht. Abgeordnete, deren Mitarbeiter und die Beschäftigten der Fraktionen sowie der Verwaltung waren von der Maskenpflicht ausgenommen; die hygienischen Standards in den Bundestagsgebäuden waren und sind minimal. Schlecht belüftete Teeküchen sind weiter geöffnet, in Aufzügen herrscht dichtes Gedränge, und in vielen Sitzungsräumen steht Stuhl neben Stuhl, während in jedem Café ein Mindestabstand von 1,50 Meter einzuhalten ist. Händeschütteln und Umarmungen sind häufig zu beobachten.

„Das Tragen von Masken ist um so wirksamer, je mehr Menschen sich daran beteiligen“, begründete die Verwaltung diese Empfehlung von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU). Das Schreiben enthält zudem den Appell, die Mindestabstände einzuhalten. Der Vorstoß ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Offenbar wollte Schäuble sich nicht persönlich an Abgeordnete und Mitarbeiter wenden, weil er damit schriftlich eingestanden hätte, daß sich die Politik ein halbes Jahr von der lästigen Maskenpflicht ausgenommen hatte, während es aus dem Plenarsaal pausenlos Appelle an die Bürger gab, sich penibel an die Corona-Schutzmaßnahmen zu halten. So kommt die jetzige „dringende Empfehlung“ als eine Art Pressemitteilung daher, in der Schäuble zitiert wird. Auch der neue Bundestagsdirektor Lorenz Müller wollte sich für die späte Empfehlung offenbar nicht hergeben. Das Schreiben ist nicht unterzeichnet.

Bemerkenswert an der Hausmitteilung ist weiterhin, daß eine „dringende Empfehlung“ noch lange keine Pflicht zum Tragen einer Maske bedeutet. Wer also ab dieser Sitzungswoche ohne Maske auf den Fluren des Bundestages unterwegs ist oder an Sitzungen und Besprechungen teilnimmt, dem passiert weiterhin – nichts. Wer hingegen an der frischen Luft in einem gut gefüllten Wartehäuschen einer Berliner Bushaltestelle ohne Maske steht, muß mit 50 Euro Bußgeld rechnen. Auch in öffentlichen Verkehrsmitteln sind ohne Maske 50 Euro fällig. Dabei kennt der Bundestag durchaus Strafzahlungen: Wenn Abgeordnete an Sitzungstagen fehlen oder an einer namentlichen Abstimmung nicht teilnehmen, werden bis zu 200 Euro Strafe fällig, die von der steuerfreien Kostenpauschale abgezogen werden. Um die Maskenpflicht zu kontrollieren, könnte die Bundestagspolizei genutzt werden und Knöllchen verteilen. Spötter meinen schon seit langem, daß Überarbeitung nicht zu den Problemen der Bundestags-Polizei gehört.

Von der „dringenden Empfehlung“ zum Maskentragen gibt es eine wichtige Ausnahme: „Abgenommen werden kann die Maske bei Redebeiträgen im Plenarsaal und anderen Sitzungssälen.“