© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/20 / 11. September 2020

„Nicht Schlagworte der Spinner übernehmen“
Expertengespräch: Der Rechtswissenschaftler Dietrich Murswiek über die Forderungen nach einer verfassungsgebenden Versammlung und einem Friedensvertrag
Christian Vollradt

Herr Professor Murswiek: Haben wir eine Verfassung oder muß das deutsche Volk erst eine solche „in freier Entscheidung“ beschließen? 

Murswiek: Das Grundgesetz ist die Verfassung Deutschlands. Es war vom Parlamentarischen Rat als vorläufige Verfassung konzipiert – wegen der damaligen Souveränitätsbeschränkungen und wegen der Teilung Deutschlands. An der Schaffung des Grundgesetzes konnten ja die Deutschen außerhalb der westlichen Besatzungszonen nicht beteiligt sein, und das Grundgesetz konnte nur in Westdeutschland Geltung erlangen. Das sollte mit dem Namen – „Grundgesetz“ statt „Verfassung“ – betont werden. Aber seit der Wiedervereinigung gilt das Grundgesetz für ganz Deutschland, und es ist durch den Beitritt der DDR auch als Verfassung für ganz Deutschland akzeptiert worden, auch wenn der Name „Grundgesetz“ beibehalten wurde.

Wenn das Grundgesetz aber eine Verfassung ist, warum gibt es den Artikel 146?

Murswiek: Artikel 146 sollte ursprünglich die Ablösung des vorläufigen Grundgesetzes durch eine endgültige Verfassung ermöglichen, wenn die Voraussetzung dafür gegeben sein würde: Die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit. Diese Voraussetzung war 1990 gegeben. Mit dem Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, der die Konditionen des DDR-Beitritts regelt, wurde der ursprüngliche Bezug auf die Wiedervereinigung aus Artikel 146 gestrichen und die Möglichkeit der Anwendung dieser Vorschrift – also die Möglichkeit der Ablösung des Grundgesetzes durch eine neue Verfassung – aufrechterhalten. Von dieser Möglichkeit hat man damals nicht Gebrauch gemacht. Ob Artikel 146 heute noch – ohne Zusammenhang mit der Wiedervereinigung – anwendbar ist, ist unter Staatsrechtlern umstritten. Das Bundesverfassungsgericht hat im Lissabon-Urteil von 2009 die Anwendbarkeit bejaht. Wie dem auch sei: Allen, die jetzt von einer neuen Verfassung phantasieren, sei nachdrücklich gesagt, daß die freiheitliche demokratische Grundordnung nicht zur Disposition steht.

Was halten Sie als Staats- und Verfassungsrechtler von der Idee der „Querdenker“, zu sagen: wir laden alle mal zum Mitreden ein, und das ist dann die „verfassungsgebende Versammlung“?

Murswiek: Wenn die „Querdenker“ jetzt eine Verfassungsdebatte auslösen wollen, ist das aus meiner Sicht zwar politisch wenig sinnvoll, aber völlig legitim, sofern es dabei um eine Reform des Grundgesetzes und nicht um die Abschaffung der freiheitlich-demokratischen Ordnung geht. Daß dann alle mitreden sollen, die daran Interesse haben, ist konsequent. Aber wenn die „Querdenker“ tatsächlich glauben sollten, daß das dann eine verfassunggebende Versammlung sei, wäre das reine Hybris. Wenn eine Gruppe, die nur einen kleinen Teil des Volkes umfaßt, sich anmaßt, über eine neue Verfassung nicht nur zu diskutieren, sondern zu entscheiden, ist das undemokratisch. Selbst zur Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs, über den dann das Volk abzustimmen hätte, wäre eine solche Gruppe nicht legitimiert. Ich hoffe, die „Querdenker“ meinen das nicht so, sondern haben den Begriff der verfassunggebenden Versammlung nur falsch verstanden. Wer eine neue Verfassung fordert, sollte sich im übrigen erst mal Klarheit über die Rechtsbegriffe verschaffen. Unter Verfassunggebung versteht man im Unterschied zur Verfassungsänderung, daß nicht nur einzelne Verfassungsvorschriften geändert, sondern die Grund-entscheidungen der Verfassung durch neue Grundentscheidungen ersetzt werden. Wer etwa die Forderung erhebt, daß Verfassungsänderungen künftig der Zustimmung des Volkes bedürfen, will die geltende Verfassung ändern, aber sie nicht durch eine neue ersetzen. Es ist widersprüchlich, Artikel 1-20 des Grundgesetzes in den höchsten Tönen zu preisen, wie ich das seitens des Organisators von „Querdenken 711“ gehört habe, und gleichzeitig die Ablösung des Grundgesetzes durch eine neue Verfassung zu fordern.

Ist der Mitte September 1990 unterzeichnete Zwei-plus-Vier-Vertrag faktisch ein Friedensvertrag, und ist Deutschland seither souverän?

Murswiek: Ja, der Zwei-plus-Vier-Vertrag ersetzt einen Friedensvertrag, und mit diesem Vertrag sind die letzten besatzungsrechtlichen Vorbehaltsrechte entfallen, die der rechtlichen Souveränität Deutschlands noch entgegenstanden.

Daß der Zwei-plus-Vier-Vertrag nicht offiziell Friedensvertrag heißt, war doch gerade ein Wunsch der Bundesregierung, damit nicht alle früheren Kriegsgegner mit an den Verhandlungstisch drängen?

Murswiek: Ja.

Wie erklären Sie sich, daß immer wieder und ausgerechnet jetzt solche Rufe nach „Verfassung und Friedensvertrag“ laut werden?

Murswiek: Es gibt immer Unzufriedene und Wichtigtuer, die meinen, die Ursache aller Übel gefunden zu haben und eine Therapie anbieten zu können. Wenn so etwas auf marginale Gruppen wie die „Reichsbürger“ beschränkt bleibt, kann man es ignorieren. Aber wenn politische Sektierer, die die Legitimität der Bundesregierung verneinen, die die Bundesrepublik für eine GmbH halten und sich selbst zu Amtshandlungen ermächtigen, den Versuch unternehmen, auf eine demokratische Massenprotestbewegung Einfluß zu nehmen, müssen deren Organisatoren aufpassen, daß sie nicht aus politischer Naivität und verfassungsrechtlicher Unbedarftheit Schlagworte dieser Spinner übernehmen und damit die ganze Bewegung diskreditieren.






Prof. Dr. Dietrich Murswiek, Jahrgang 1948, ist emeritierter Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Univer-sität Freiburg

 www.dietrich-murswiek.de