© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/20 / 11. September 2020

„Sie schießen auch auf Polizisten“
Chile: Mapuche-Aktivisten proben den Aufstand / Bürgerkomitees kritisieren Regierung
Jörg Sobolewski

Mario Marchant ist weniger wütend als vielmehr besorgt, als er der JUNGEN FREIHEIT von der aktuellen Lage im Süden Chiles berichtet: „Die Corona-Epidemie, die Krawalle im vergangenen Jahr und nun der Konflikt in Araucania (Araukanien) – wir sehen uns einem perfekten Sturm gegenüber.“ 

Seit Jahren schon schwelt in den angrenzenden Regionen Bio Bio und Araucania ein Streit um Land und Geschichte. Das indigene Volk der Mapuche, das einen Großteil der Bevölkerung in diesen Regionen ausmacht, kämpft nach eigener Darstellung um Autonomie und eine Rückgabe ehemaliger Stammlande. 

Deutschstämmige Siedler zunehmend unter Druck  

Die Aktivisten geben sich nach außen hin friedlich, ausschließlich mit gewaltlosem Widerstand soll die Rückgabe erzwungen werden. Sich selbst sehen die Mapuche dabei vor allem als Opfer staatlicher Gewalt. Von „politischen Verhaftungen“ und „Folter“ ist immer wieder die Rede. 

Farmer wie Mario sehen die Lage hingegen anders. „Um ihre Forderungen durchzusetzen, blockieren die Aktivisten Straßen, zünden Lkw an und schießen auf Polizisten.“ Tatsächlich erschütterte im Februar ein außergewöhnlich brutaler Übergriff die Region, als der Fahrer Juan Barrios lebendig in seinem Führerhaus verbrannte. Der Zusammenschluß chilenischer Berufskraftfahrer nennt den Fünfzigjährigen den „ersten Märtyrer der chilenischen Logistikbranche“. 

Die, aus Sicht der Betroffenen, mangelnde Reaktion des Staates führte zu einem Streik der Berufskraftfahrer, der die Republik zwischen Anden und Pazifik komplett stillstehen ließ. Der sogenannte kleine Süden, in dem sich auch die Farm der Familie Marchant befindet, ist verantwortlich für die landwirtschaftliche Produktion des ganzen Landes. Die großen Städte im Zentrum, Kupfer- und Lithiumminen im Norden, alles wird aus dieser enorm fruchtbaren Region versorgt. Verschärfend kommt die spezifische Struktur Chiles hinzu. Das ganze Land besteht aus einem schmalen, aber extrem langen Streifen, in dessen Mitte die Lebensader des Landes, die sogenannte „Panamericana“, verläuft. Ganz Chile bewegt sich entlang dieser gut ausgebauten Autobahn zwischen Norden und Süden. 

Ein Streik, eine Blockade oder ein Unfall unterbricht die Kette und führt unweigerlich zu Versorgungsengpässen. „Benzin an der Tankstelle wurde im Zuge des Fahrerstreiks knapp“, berichtet sein Sohn, Mario Marchant junior. Von Groll gegenüber den Fahrern ist dennoch bei den beiden nichts zu spüren, ganz im Gegenteil: „Wir als Landwirte haben uns der Demonstration der Fahrer angeschlossen. Wir haben ähnliche Sorgen.“

Tatsächlich greifen die sogenannten Aktivisten nicht nur die landesweite Logistik an. Auch das Land selber steht im Visier. Genauer die das Land bewirtschaftenden Baue­­­­rn. Viele von ihnen sind Nachfahren deutscher Siedler, die von der chilenischen Regierung Mitte des 19. Jahrhunderts ins Land gerufen wurden, um Araucania urbar zu machen. Die Republik Chile hatte die Region vorher den indigenen Ureinwohnern in einem harten Ringen abgezwungen. Ein brutal geführter Krieg, der bei den Unterworfenen Narben hinterließ. 

Jahrelang wurde das Narrativ einer friedlichen Verschmelzung der Ureinwohner mit den neuen Siedlern propagiert. Inwieweit die deutschen Neuankömmlinge von den zurückliegenden Greueln wußten, als sie ihr Land zur Urbarmachung zugeteilt bekamen, ist ungewiß.

 Ein Teil der Mapuche spricht von Völkermord und Landraub, der ungeschehen gemacht werden müsse. Unter dieser Maxime zünden einzelne Gruppen aus Mapuche Landhäuser und Farmen an. Meist werden dabei die Einwohner mit vorgehaltener Waffe zum Verlassen der Häuser gezwungen. 

Auch das alte Stammhaus der Familie Marchant brannte in der Vergangenheit. Über die Weihnachtsfeiertage kam es zu einer Brandentwicklung. Ob es auch Brandstiftung war? Marchant Senior und Junior wiegen den Kopf, nachgewiesen werden konnte nie etwas. Immerhin, im Haus war damals niemand. 

„Wir sind als Farmer untereinander jetzt gut vernetzt und geben aufeinander acht.“ Ob sie denn auch eine Bürgerwehr hätten? Wieder wählt Mario Marchant seine Worte sehr sorgfältig: „Wir wollen, daß die Polizei und notfalls auch das Militär die Ordnung wieder herstellen. Wir wollen keinen Bürgerkrieg, wir wollen Frieden in der Region.“ Doch aus seiner Sicht ist die Regierung zu eingeschüchtert, um wirkliche Handelsfähigkeit zu beweisen. „Unserer Regierung steckt noch der Krawall in Santiago im vergangenen Jahr in den Knochen. Das staatliche System ist wie gelähmt. Aber wenn das so weitergeht, nehmen die Leute hier die Sache selbst in die Hand, und dann haben wir Bürgerkrieg. Das wäre furchtbar!“ 

Polizei konnte Lynchjustiz in letzter Minute verhindern 

In der Kleinstadt Curacautín, in der Provinz Araucania, ist dieser Fall von Selbstjustiz bereits eingetreten. Nachdem eine Gruppe radikaler Mapuche wenige Tage zuvor die Kommunalverwaltung besetzt hatte, um auf den Hungerstreik des verurteilten Cordova Transito aufmerksam zu machen, ging bei der lokalen Polizeiwache am 1. August ein Anruf ein. Ein Bürgerkomitee kündigte an, das Gebäude selber zu räumen und bat dabei um die Zustimmung der Polizei. 

Wenige Stunden später versammelten sich Anwohner, zerstörten die Autos der Besetzer und setzten zum Sturm auf das festungsartig ausgebaute Bürogebäude an. Lediglich eine eilig anrückende Abteilung der chilenischen Polizei verhinderte Lynchjustiz und nahm die Besetzer unter dem Jubel der Anwesenden fest. Hausbesetzer wie auch Bürgerwehr entstammten mehrheitlich der Volksgruppe der Mapuche. Für Marchant keine Überraschung: „Die radikalen Mapuche haben mit den normalen Mapuche nichts gemein. Das sind einfach von Kommunisten aufgehetzte Kriminelle.“ Die Kommunistische Partei im Land tut bislang wenig, um diesen Vorwurf abzuwehren. In einer Presseerklärung stellte sich die Partei hinter die Solidaritätsbekundungen zugunsten des Verurteilten Brandstifters Transito.