© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/20 / 11. September 2020

„Sowas sollte nie passieren“
Der Fall Nawalny: Kalter Krieg zwischen West und Ost – nur Trump hält sich raus
Marc Zoellner

Gelassener hatte Dmitri Peskow sich kaum jemals vor der versammelten Presse präsentiert als an diesem Montag: Mit einem schlichten „Njet!“ durfte der Sprecher des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf die Frage eines Journalisten reagieren, ob denn der Kreml im Fall Nawalny deutsche Sanktionen gegen den geplanten Bau der „Nord Stream 2“-Pipeline fürchte. Natürlich, bekundete Peskow noch einmal ausdrücklich, sei Moskau gern bereit, mit Deutschland zusammenzuarbeiten, um sämtliche Umstände des Falls aufzuklären.

In Erklärungsnot bezüglich der mutmaßlichen Vergiftung des russischen Oppositionspolitikers Alexei Nawalny scheint der Kreml jedenfalls nicht zu kommen. Hingegen bleiben Fragezeichen darüber bestehen, was wirklich an jenem 20. August geschah, als der 44jährige Rechtsanwalt und Antikorruptionsaktivist während seines Flugs von Tomsk nach Moskau zusammenbrach und nach einer Notlandung im sibirischen Omsk notbehandelt werden mußte. 

Frühzeitig sprachen seine Begleiter von einer vergifteten Tasse Tee, die Nawalny auf dem Flughafen in Tomsk überreicht worden sein soll. Der behandelnde Omsker Arzt hingegen benannte eine Stoffwechselstörung als Ursache für Nawalnys plötzlichen Kollaps. 

Symptome hier – Fragezeichen dort

Zwei Tage später diagnostizierten deutsche Ärzte allerdings Symptome einer Vergiftung mit dem Nervengift Nowitschok – ähnlich wie im Fall des Attentats auf den russischen Doppelagenten Sergei Skripal im März 2018.

Bereits in der Vorwoche hatte der russische Generalstaatsanwalt in Berlin Akteneinsicht zu den jüngsten Untersuchungen beantragt. „Doch Deutschland hat es bis jetzt unterlassen, irgendwelche Beweise für eine Vergiftung vorzulegen“, mahnte Marija Sacharowa, Sprecherin des russischen Außenministeriums, zu Wochenbeginn. Ähnliche Skepsis teilt auch Donald Trump. „So etwas ist tragisch und furchtbar und sollte niemals passieren“, erklärte der US-Präsident am Freitag. „Doch wir haben bislang noch keine Beweise gesehen.“ 

Nach Angaben der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) hat Rußland bereits im September 2017 seine kompletten Vorräte chemischer Kampfstoffe vernichtet. Staatliche russische Nachrichtenagenturen verweisen indes darauf, daß in den USA noch immer über 150 Patente zur Nutzung von Nowitschok liefen. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg forderte Moskau auf, dessen Chemiewaffenprogramme erneut einer internationalen OPCW-Kommission offenzulegen, um die Vorwürfe gegen den Kreml im Fall Nawalny zu beleuchten. „Es gibt nun ernsthafte Fragen, die Rußland beantworten muß“.