© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/20 / 11. September 2020

Die Menschheit tritt ins postkulturelle Zeitalter ein
Pulverisierte Symbolsysteme
(wm)

Kultur ist ein normierendes Symbolsystem. Erst die Welt der Symbole, so führt der Publizist Alexander Grau in einem elegischen Essay über den heute im Ruf des Reaktionären stehenden „Kulturpessimismus“ aus (Zeitschrift für Politik, 2/2020), gebe menschlichem Dasein „Halt, Orientierung und Sinn“. Doch die auf Dauer angelegten, durchaus konservativen abendländischen Symbolsysteme gerieten im 19. Jahrhundert, in der sich entwickelnden kapitalistischen Moderne, unter einen Veränderungsdruck, wie sie Gesellschaften seit Jahrtausenden nicht erfuhren. Und dem sie, wie sich heute zeige, erlegen sind. Gegenwärtig, nach dem faktisch abgeschlossenen Prozeß der Dekulturalisierung, werde deutlich, daß Kultur keine Notwendigkeit sei. „Gesellschaften ohne Kultur sind möglich“, konstatiert Grau angesichts des Zulaufs für gegenkulturelle Bewegungen, die sich unter der Fahne von „Buntheit und Diversity“ sammeln. Daher dürfe man die „Kulturphase der Menschheit“ als abgeschlossen betrachten. Sie treten nun ein ins globale Spiel mit Heterogenitäten und Pluralitäten, die selbst keine Kultur hervorbringen könnten, da sie auf normierender Selbstbeschränkung, auf Triebverzicht (Sigmund Freud) gründe, was unvereinbar sei mit dem hedonistischen Traum von individueller Selbstverwirklichung. Das nach Selbstentfaltung gierende Subjekt, das sich von „männlichen, rassistischen, sexistischen Machtdispositiven“ emanzipieren möchte, pulverisiere die überlieferten Symbolsysteme der Kultur in der illusionären Hoffnung, seine atomisierte Existenz als sinnvoll inszenieren zu können. Aber: „Es gibt keine Individualkultur, sowenig, wie es eine Privatsprache gibt“. 


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