© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/20 / 11. September 2020

Realsatire am Telefon
Nachrichten aus einer Anstalt, deren Türen innen keine Schlüssel haben: Die Welt der Verschwörungstheoretikerin Sibylle Berg
Oliver Busch

Wer unter den vielen Spiegel- Online-Kolumnisten allwöchentlich den übelsten semantischen Sondermüll im Netz entsorgt, ist schwer zu entscheiden. Wer dabei den kindlichsten Eindruck hinterläßt, dürfte jedoch unumstritten sein, es ist, „in sichrer Einfalt wohnend“ (Hölderlin), die 58jährige Sibylle Berg. Erst neulich (29. August) hat sie dort wieder einen ihrer charmanten Weltrettungspläne vorgelegt, der so bestechend infantil ist, daß er auf einen Bierdeckel paßt. Es sei jetzt Zeit, den „wunderbaren Traum“ des Kommunistischen Manifests mit neuem Leben zu füllen. Da ja „alle“ im Grunde dasselbe wollen, Frieden und was Gutes zu essen, müsse man nur die zehn Prozent der Weltbevölkerung, die den größten Reichtum gehortet haben und ohnehin nie etwas anderes taten, als die anderen 90 Prozent gegeneinander aufzuhetzen und sie in Kriege zu schicken, endlich entmachten, also enteignen, um eintreten zu können ins Paradies der klassenlosen Gesellschaft. 

Daß Berg auch das große Format der Realsatire meistert, die Premiumklasse des Kinderbuchs, beweist sie mit ihrem im Frühjahr erschienenen Interview-Band „Nerds retten die Welt“. Er vereint sechzehn Telefongespräche, die Apokalyptikerin Berg mit Natur- und Geisteswissenschaftlern aus Europa, Israel und den USA führte, um sich zu vergewissern, daß die Welt noch nicht morgen, sondern mit Glück erst nächste Woche untergeht. Fragen und Antworten vermitteln gleichermaßen unfreiwillig tiefe Einblicke ins linkslibertäre Selbstverständnis, für das der Volksmund das schöne Sprichwort kreierte: „Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz.“ 

So ist die meinungsstarke Dampfplauderin Berg zutiefst davon überzeugt, daß die absolute Mehrheit der Weltbevölkerung „denkfaul“ ist, daß die Intelligenz der Menschheit derzeit rasant abnehme, der „Schwachsinn“ epidemisch expandiere und Massenwahn um sich greife, der ihre unverhohlene Hoffnung auf das „Aussterben der Species“ speist. Während ausgerechnet sie, deren Vorname sich auf jene antiken Seherinnen bezieht, die in religiöser Ekstase unheilvolle Vorhersagen stammelten, mit ihrem profunden Klatschbasen-Pessimismus den vollen Durchblick behält.

Gruselige Zukunftsvisionen

Ungerührt gegen Weltverschwörer vom Leder ziehend, wittert dieses nervige Kompetenzvakuum gleichwohl allenthalben die Machenschaften von „Populisten, Faschisten, Marktradikalen und Diktatoren, die die Tricks des Hitler-Regimes wieder aufleben lassen“. Ermüdend oft erheischt sie von ihren Gesprächspartnern zudem die Bestätigung ihrer fixen Idee, die Wissenschaftsfreiheit werde von „neurechten und rechtsextremen Populisten“ bedroht. Nicht etwa durch die etablierte „Cancel Culture“ oder wissenschaftsfeindliche Ideologiefächer des Gender- und Antirassismus-Spektrums. Genauso treibt sie der an jeder Ecke lauernde „Femizid“ um, die allgegenwärtige Auslöschung von Frauen, oder, „in manchen Ländern“, der von Männern schon ins Werk gesetzte „Massenmord“ per Abtreibung, den sie freilich nur deshalb so tituliert, weil angeblich allein weibliche Föten die Opfer sind.

Zu der von Berg favorisierten klassenlosen Gesellschaft, die sich im Idealfall ohne männliche Hilfe fortzeugt, steuern manche ihrer akademischen „Nerds“ nicht weniger gruselige Zukunftsvisionen bei. So steigt der auf Selbstlob abonnierte Astrophysiker Abraham Loeb (Harvard) fröhlich ins posthumane Zeitalter ein, indem er statuiert, die Menschheit solle nicht länger alles auf die eine Karte Erde setzen und sich in den Weltraum hinauswagen. Dirk Helbing, ein an der ETH Zürich lehrender Professor für Computational Social Science, schürt zunächst Bergs Ängste vor dem „Faschismus“. Der stehe als „digitaler, technologischer Totalitarismus“ vor der Tür. Aber, zu deren Enttäuschung, nicht getragen von ihren Lieblingsfeinden, „Nazis und Neoliberalen“, sondern von den lupenreinen Kommunisten Chinas, die beim Ausbau des „1984er“-Staates ein hohes Tempo vorlegen. Damit es im Rest der Welt nicht so weit kommt, schlägt Helbing, ein wirrer Apologet des „demokratischen Kapitalismus“, vor, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben und eine „vernünftige Weltregierung“ zu installieren. Wer außer Helbing und Sibylle Berg dort an den Hebeln der Macht sitzen soll, wird noch in den Gremien beraten. 

Öfter als zu erwarten war, sieht sich Berg mit tatsächlich patenten Lösungsvorschlägen für die Weltprobleme konfrontiert. So weist die US-Politologin Valerie M. Hudson, eine feministische Mormonin, darauf hin, wie gefährlich das zivilisierte europäische Geschlechterverhältnis durch den Massenzustrom junger Männer aus gewaltaffinen Steinzeitkulturen außer Balance gerate und wie schädlich das für Frauen sei – beispielsweise in Schweden. Ein „hochaufgeladenes Thema im Moment“, meint Berg, aber um das auszudiskutieren „fehlt hier der Platz“.

Nicht besser geht es dem Meeresökologen Carl Safina (New York), der überzeugt ist, die Überbevölkerung treibe und verschlimmere „alle unsere Umweltprobleme“. Was Berg spitz quittiert mit „Ein schönes Schlußwort“ und das Gespräch abrupt beeendet.

Sibylle Berg: Nerds retten die Welt. Gespräche mit denen, die es wissen. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020, gebunden, 329 Seiten, 22 Euro