© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/20 / 11. September 2020

„Ein gespaltenes Land ist nicht dramatisch“
Eine Reportage von der „5. Vollversammlung der wahren Schwarmintelligenz“ in Erfurt
Harald Melzer

Die Tische im Saal und auf den Emporen des ehrwürdigen Kaisersaals zu Erfurt sind bis auf den letzten möglichen Platz gefüllt. Freundliche junge Damen und junge Männer in Anzügen haben zuvor die Anmeldungslisten abgeglichen und Namensschilder an schwarz-rot-goldenen Bändern verteilt. Ordner achten darauf, daß jeder Teilnehmer Mund-Nasen-Maske trägt. Die 300 Teilnehmer sind aus ganz Deutschland gekommen; über 400 weiteren Interessenten, die sich vor Corona zur „5. Vollversammlung der wahren Schwarm-intelligenz“ angemeldet hatten, mußte der Medienunternehmer und Publizist Klaus Kelle mit seinem Team absagen.  

Kritiker von rechts werfen Kelle und seinen Unterstützern vor, sie wollten lediglich die CDU der 1980er Jahre wiederbeleben, während linke Blogger diese Mischung aus Konservativen und Libertären als rechtsradikal denunzieren. Ein linkskirchliches Magazin will recherchiert haben, daß auf der Teilnehmerliste mindestens 16 AfD-Mitglieder stehen, außerdem sollen Mitglieder von FDP und CDU vertreten sein. 

Die bürgerlichen Oppositionellen treffen sich, um Vorträge zu hören, sich auszutauschen und zu diskutieren. Klaus Kelle gelingt es, namhafte Referenten des konservativen Milieus zu gewinnen. Sprachen im vergangenen Jahr die ehemalige Bundesfamilienministerin Kristina Schröder und der Historiker Hubertus Knabe, hatten sich dieses Jahr Degussa-Chef und Bestsellerautor Markus Krall sowie Ex-Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen angesagt. Kelle sagte in seiner Begrüßung Versuchen den Kampf an, den Diskurs in Deutschland weiter einzuschränken: „Wir kämpfen für die Freiheit zu reden, zu denken und zu schreiben, was man will. Wir Bürgerlich-Konservativen stehen für Toleranz, aber auch für das Leistungsprinzip. Die 68er sind gescheitert.“

Eröffnet wird die Tagung von dem Chef des Meinungsforschungsinstituts Insa, Hermann Binkert, der scharf kritisierte, wenn sich Politiker ihren Kurs nach Umfragen ausrichten: „Wer nur mit Stimmung geht, gibt seinen Anspruch auf, Orientierung zu geben.“ Das Konzept der von der CDU unter Merkel praktizierten „asymmetrischen Demobilisierung“ sei eine Beschädigung der Demokratie. Unter diesem Begriff verfolgt die Union eine Wahlkampfstrategie, die darauf abzielt, durch das Vermeiden von kontroversen Stellungnahmen, Wähler des politischen Gegners zu demotivieren, zur Wahl zu gehen. Dabei werde eine sinkende Wahlbeteiligung in Kauf genommen, solange man Mehrheiten bekomme. Binkert kritisierte das ständige Gerede von der „Spaltung der Gesellschaft“: „Ein gespaltenes Land ist nicht dramatisch, dramatisch wird es, wenn es nicht mehr den Wettstreit der Meinungen gibt.“

Mit dem Wittenberger Pastor Alexander Garth widmete sich die Tagung der Glaubenskrise der Kirchen. Der Autor des Buches „Warum ich kein Atheist bin“ forderte eine Neu-Evangelisierung der Gesellschaft. Der Gründer mehrerer neuer Gemeinden rechnete mit der praktizierten Lehre des Theologiestudiums ab: „Die Kirchen haben Jesus zum Morallehrer gemacht und damit den Glauben zerstört.“ 

Keine kulturelle Hegemonie ohne Auseinandersetzung 

Eine besonders lebhafte Diskussion löste der Mainzer Historiker Andreas Rödder mit seinem Vortrag „Konservativ sein in der modernen Gesellschaft“ aus. Erntet er bei der Forderung noch freundlichen Applaus, dem „linken Konzept des Gender Mainstreaming“ ein „Family Mainstreaming“ entgegenzusetzen, um die Benachteiligung von Familien zu ändern“, so gellen kurz darauf Pfui-Rufe durch den Saal und Rufe „Merkel ist schuld!“ Auslöser ist seine Aussage, Deutschland sei heute ein Einwanderungsland. Die Zwischenrufer machen die Bundeskanzlerin für die unkontrollierte Massenmigration verantwortlich, worauf Rödder entgegnet, daß es schon seit den sechziger und siebziger Jahren Einwanderung nach Deutschland gegeben habe.

Da Rödder die These vertritt, „der Konservative verteidigt heute das, was er früher bekämpft hat“, stellt ihm ein Diskutant die Frage, ob die Union damit darauf verzichte, überhaupt noch den Kulturkampf mit der Linken aufzunehmen. Rödder bestritt, ein Apologet des Konzeptes der „asymmetrischen Demobilisierung“ zu sein. Kulturelle Hegemonie sei nicht ohne Auseinandersetzungen zu haben.

Der US-Diplomat Todd Huizinga wird für seinen Vortrag über Skype in den Saal geschaltet. Der Präsident der Denkfabrik „Zentrum für transatlantische Erneuerung“ gab eine Einschätzung des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfes und über die von Corona und den „Black Lives Matter“-Unruhen geprägte Lage des Landes. In den USA herrsche ein Kulturkampf, so Huizinga. Die „konservative Hälfte der US-Bevölkerung“ stünde der anderen Hälfte gegenüber, deren Vertreter „den christlichen Glauben, den traditionellen Sexualitäts- und Familienbegriff, die Rede- und Meinungsfreiheit, kurz das ganze abendländische Kulturerbe in Frage stellen“. Er sieht durch die „postmoderne Linke“ die Meinungsfreiheit bedroht; als „Political Correctnes“-Aktivisten gewandete Kulturmarxisten strebten eine totalitäre Diktatur an. Als Beispiel führte er den erzwungenen Rücktritt des Redaktionsleiters der New York Times an. Dieser mußte sein Amt niederlegen, nachdem er den Kommentar eines konservativen Senators veröffentlicht hatte. 

Als neue Form der Zensur identifzierte Huizinga Maßnahmen sozialer Medien wie Facebook oder Twitter: „Das Problem ist, daß die Besitzer und Betreiber links sind und die meisten Beschäftigten links sind. Sie sehen die Welt durch eine linke Brille, die geprägt ist von einer postmodernen realitätsfremden Weltsicht.“

Entlassen werden die Hörer vor dem Abendessen durch Markus Krall mit einer Rede über „Freiheit oder Untergang“. Der zunehmende Verlust der Freiheit sei eine Folge der vergangenen Jahrzehnte, so der Degussa-Chef, Bankenanalyst und Autor des Buches „Die bürgerliche Revolution“. Die Preisgabe der Freiheit sei nicht allein einem Sicherheitsbedürfnis geschuldet, sondern einer sozialistsichen Geisteshaltung, die die Menschen aus der Freiheit und Verantwortung entließe. Der bekennende Katholik führte aus, wie die sieben Todsünden Wollust, Neid, Gier, Völlerei, Trägheit, Zorn und Hochmut sich in der Gesellschaft ausgebreitet hätten und die Freiheit bedrohten. Sein Lösungsansatz: „Das Wertegerüst der freien Gesellschaft. Die fünf Säulen dieser Freiheit sind Individualität, Eigentum, Familie, Religion und Kultur. Die Bürger wollen die Freiheit, nicht den Untergang.“

Christliche Rapper und eine rebellische Landwirtin 

Aufgelockert wurden die Vorträge durch Kurzinterviews mit der Landwirtin Maike Schulze-Broers und den christlichen Rappern „O’Bros“. Schulze-Broers erklärte die Notwendigkeit ihrer Initiative „Land schafft Verbindung“, die saturierten Bauernverbänden den Schneid abkauft, und warum weitere Proteste nötig seien. Den beiden jungen Musikern gelang es mit ihrem christlichen Hip-Hop, das zunächst skeptische Publikum mit ihrer positiven Botschaft a cappella vom Stuhl zu reißen.

Beim festlichen Abendessen beeindruckte die 22jährige Berliner Medizinstudentin Larissa Fußer mit einer frei gehaltenen Rede. Die Jugendbeauftragte der Hayek-Gesellschaft und Autorin der Blogs „Achse des Guten“ und „Tichys Einblick“ erläuterte, wie sie zu ihrer Kultur, „ihrer deutschen Leitkultur“ gefunden habe, und warum sie die Freiheit und den Rechtsstaat verteidige: „Für mich gibt es keine Heimat außer Deutschland. Mein Heimatgefühl hängt damit zusammen, daß ich auf dem Flecken lebe, wo sich die Geschichte, die mein Land zu dem gemacht hat, was es heute ist, abgespielt hat.“

Der Kongreß fand am Sonntag mit einer großen Podiumsrunde zum Thema „30 Jahre deutsche Einheit“ ein Ende. Nach einleitenden Worten von Klaus Kelle, JF-Chefredakteur Dieter Stein und Ex-Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen zeichneten die ehemalige Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld, die stellvertretende Bundesvorsitzende der Werte-Union, Simone Baum, sowie der Präsident des Eike-Instituts, Holger Thuß, noch einmal die Situation nach, die zur Wiedervereinigung führte. 

Hans-Georg Maaßen erinnerte an die Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit in der Phase der friedlichen Revolution. Der Chef der Hauptverwaltung Aufklärung, Mischa Wolf, habe sein Agentennetz vermutlich bereits 1988 an den KGB überführt. Ebenso schilderte er, wie Geheimdienste totalitärer Staaten sogenannte „Honeypots“ (Honigtöpfe) konstruieren, indem Agenten sich in der Opposition engagieren um Oppositionelle anzulocken und diese entweder zu neutralisieren oder Einfluß zu nehmen.

Mit diesen Ausführungen gewannen die Erinnerungen von Vera Lengsfeld an die frühen Führer der Opposition in der DDR wie Lothar de Maizière (CDU), Ibrahim Böhme (erst SDP/später SPD), aber auch Wolfgang Schnur (Demokratischer Aufbruch) eine besondere Bedeutung. Alle Genannten wurden später als Inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit enttarnt.

Das MfS habe bereits in den fünfziger Jahren damit begonnen, westdeutsche Hochschulen zu unterwandern und kommunistische Gruppen zu finanzieren. So wirke die Arbeit des MfS bis heute fort. In der Diskussion wurde die Frage erörtert, warum insbesondere die CDU nicht offensiv die Vernetzung zwischen SPD, Grünen, Linken und Linksextremen aufkläre, während die SPD seit Jahrzehnten beispielsweise mit einem „Blick nach rechts“ die Union und ihr Umfeld durchleuchte. Vera Lengsfeld dazu: „Die CDU ist schlicht nicht mehr willens. Sie scheut die Auseinandersetzung.“ Hans-Georg Maaßen ergänzt: „Wir Konservativen spielen Fußball, die Linke spielt American Football. Für die gelten ganz andere Spielregeln.“ 

Holger Thuß indes sieht mittlerweile im wiedervereigten Deutschland Ähnlichkeiten zum totalitären System der DDR. Damals wie heute habe der Bürger die „Schnauze zu halten und die Hacke zu schwingen“, so der gebürtige Ost-

thüringer.

Weitere Informationen zur „Schwarmintelligenz“ bei Klaus Kelle per Mail.

 kelle@denken-erwuenscht.com