© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/20 / 11. September 2020

Nord Stream 2 und der Anschlag auf Alexej Nawalny
Sabotageversuche der USA
Thorsten Hinz

Die Hintergründe des Giftanschlags auf den russischen Oppositionellen Alexej Nawalny sind unklar. Hingegen ist klar, wer Nutzen aus dem Verbrechen zu ziehen versucht: die transatlantischen Gegner von Nord Stream 2, die dadurch propagandistisches Oberwasser bekommen haben und die Beendigung des deutsch-russischen Projekts zur moralischen Ehrenpflicht erklären. Natürlich haben die Sabotageversuche namentlich aus den USA keine moralischen und nicht einmal primär wirtschaftliche Gründe. Erst recht handelt es sich um keinen erratischen Entschluß Donald Trumps, sondern um eine grundsätzliche Entscheidung, die sich aus dem langfristigen geopolitischen Konzept der – immer noch – bestimmenden Weltmacht ergibt.

Ausgangspunkt ist die sogenannte „Herzland“-Theorie, die 1904 von dem britischen Geographen Halford Mackinder formuliert wurde. Galt bis dahin die Beherrschung der Seewege als entscheidend für die Stellung eines Reiches im internationalen Machtgefüge, vollzog Mackinder einen Schwenk von den See- zu den Kontinentalmächten und richtete den Blick auf das Herzland, das – für die Seemächte uneinnehmbar – den europäischen Teil Rußlands und Westsibirien umfaßte und im Süden bis ans Kaspische und Schwarze Meer reichte. Mackinder sah es von einem „inneren Halbmond“ umgeben, dessen westliche Spitze Europa bildet und sich von dort über Nordafrika, den Nahen und Mittleren Osten bis nach Indien und China erstreckt.

Eine ernste Bedrohung für die britische Seemacht könne sich aus der Verbindung des russischen Herzlandes mit dem wissenschaftlich, technisch und organisatorisch hochbefähigten Deutschland ergeben. Dieses Bündnis sei in der Lage, sich die Herrschaft über die Eurasische Landmasse zu sichern, die zusammen mit Afrika die „Weltinsel“ bilde. Mackinder folgerte: „Wer Osteuropa beherrscht, beherrscht das Herzland; wer über das Herzland herrscht, beherrscht die Weltinsel; wer über die Weltinsel herrscht, beherrscht die Welt.“

Sein Modell erfuhr durch den Geopolitiker Nicholas Spykman aus amerikanischer Sicht eine bedeutsame Modifikation. Spykman sah die entscheidenden Machtpotenzen statt im Herzland in dessen Randregionen, dem „Rimland“ konzentriert, das ungefähr dem inneren Halbmond entsprach. „Wer das Rimland kontrolliert, beherrscht Eurasien, wer Eurasien kontrolliert, kontrolliert die Geschicke der Welt.“ Sollte es einer Macht oder Mächtekoalition gelingen, das Rimland unter seine (bzw. ihre) Kontrolle zu bringen, gerieten auch die USA in seine (bzw. ihre) Abhängigkeit. Deshalb war es für die USA so wichtig, Deutschland und Japan im Zweiten Weltkrieg zu zerschlagen. Um fremde Dominanz zu verhindern, mußten sie selber zur dominanten Weltmacht werden und das Rimland beherrschen.

Es erstaunt nicht, daß die USA nach dem Zusammenbruch des Kommunismus ihre antirussische Eindämmungspolitik ungerührt fortsetzen und sich weiter um die Einkreisung Rußlands bemühen. Vordenker Brzezinski hat es offen formuliert.

Der geopolitische Theoretiker Karl Haushofer sah im Herbst 1944 voraus, daß die USA nach dem Krieg sich einen mehr oder weniger breiten Landstreifen an der europäischen West- und Südküste aneignen würden „nach dem uralten Streben jeder Seemacht, die Gegenküste in die Hand zu bekommen und das dazwischen liegende Meer vollständig zu beherrschen“.

Die Sowjetunion verfolgte eine Mackinder-Strategie. Unter dem Motto „Kommunismus gleich Sowjetmacht plus Elektrifizierung“ trieb sie die Industrialisierung des Herzlandes voran und verleibte sich sukzessive große Stücke des sie umgebenden Rimland-Halbmondes ein, ehe sie unter der Ineffizienz ihrer Ökonomie zusammenbrach. Die USA praktizierten eine Spykman-Politik. Das sowjetische Herzland war das „Reich des Bösen“ (Ronald Reagan), das sie vom Rimland her einzudämmen versuchten. Das Nato-Bündnis war in dieser Strategie ein wichtiges Instrument.

Der Ost-West-Konflikt von 1945 bis 1989 war in erster Linie ein geopolitischer, der durch den ideologischen Gegensatz nur seine konkrete Form und unversöhnliche Schärfe erhielt. Deshalb erstaunt es nicht, daß die USA nach dem Zusammenbruch des Kommunismus ihre antirussische Eindämmungspolitik ungerührt fortsetzen und sich weiter um die Einkreisung Rußlands bemühen. Ein Vordenker dieser Politik, der Globalstratege Zbigniew Brzezinski, hat es in dem Buch „The Grand Chessboard“ („Die einzige Weltmacht“, 1997) offen formuliert. „Der Wegfall der Ukraine“, heißt es da, wirke als „geopolitischer Katalysator.“ Ohne sie sei Rußland außerstande, ein eigenständiges eurasisches Reich aufzubauen. Schließlich bliebe ihm nichts anderes übrig, als sich der US-dominierten westlichen Gemeinschaft unterzuordnen. Seine äußeren und inneren Verhältnisse müßte es nach westlichen Vorgaben regeln. Geostrategisch bekämen die Amerikaner ein weiteres Stück der eurasischen Landmasse unter ihre Kontrolle.

Europa stellt für die USA ein abhängiges Rimland dar. Es dient, so Brzezinski, als „eurasischer Brückenkopf für amerikanische Macht und als mögliches Sprungbrett für eine Ausdehnung (...) in den eurasischen Kontinent hinein“. Im Blickpunkt steht vor allem Deutschland, die wichtigste europäische Macht. So wie früher England wollen auch die USA verhindern, daß die natürlichen Ressourcen Rußlands sich mit den ökonomischen und technischen Fähigkeiten Deutschlands vereinen. Schärfer als die geopolitisch unterbelichteten Deutschen sehen sie, daß das deutsch-russische Gasprojekt das Potential für eine strategische Emanzipation von den USA und zur Schaffung eines eurasischen Energie- und Wirtschaftsraums enthält. Die Ukraine würde durch den Wegfall der Transitgebühren für die Gaspipeline nach Westeuropa, die ihr Territorium durchquert, geschwächt und verlöre als amerikanischer Aktivposten an Bedeutung. Daher ist der Widerstand der USA gegen Nord Stream 2 grundsätzlicher Natur. Es gab ihn schon lange vor Trump; unter einem Präsidenten Biden würde er nicht geringer.

Der Mangel an außenpolitischer Strategie und Taktik hängt wesentlich zusammen mit dem Nicht-Verhältnis zur Geopolitik. Nun hatte die Bundesrepublik bis 1989 auch gar keine Möglichkeit, in der Praxis geopolitische Handlungsmuster zu entwickeln. 

Die deutsche Führung hat die geopolitischen Implikationen und Folgen des Projekts nicht einkalkuliert und verfügt nun über keine kohärente Gegenstrategie. Wenigstens hätte sie sich bemühen müssen, die Bedenken insbesondere der östlichen Nachbarn zu zerstreuen, als deren Interessenvertreter die USA jetzt auftreten. Merkels Vorgänger Gerhard Schröder, der das Projekt forciert hatte, sprach 2002 von einem „deutschen Weg“, den er verfolge, einer „Politik des Selbstbewußtseins ohne Überheblichkeit, der Partnerschaft nach innen und nach außen“.

Das war wenig konkret, doch vor dem Hintergrund des von der US-Administration vorbereiteten und von Deutschland strikt abgelehnten Irak-Kriegs deutete sich an, daß Schröder vorschwebte, aus dem Schatten der US-Dominanz herauszutreten. So hatte es auch eine geopolitische Logik, wenn er im Schulterschluß mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac sich betont rußlandfreundlich zeigte.

Allerdings fehlte es seiner Politik an strategischer Planung und Fingerspitzengefühl. So blieb außer Betracht, daß die USA für die historisch traumatisierten Länder Ostmitteleuropas die unverzichtbare Schutzmacht vor dem russischen Nachbarn darstellten. Merkel hingegen versuchte Nord Stream 2 als eine rein wirtschaftliche Angelegenheit zu behandeln – was sie natürlich nicht ist und was ihr niemand abnimmt. Damit nicht genug, betreibt sie gegenüber den Osteuropäern einen „moralischen Imperialismus“ (Viktor Orbán) und droht ihnen mit dem Entzug von EU-Geldern, weil sie sich einer islamischen Einwanderung widersetzen. Das treibt diese Länder erst recht an die Seite der USA und verhindert, daß die EU nach außen als eine relative politische Einheit auftritt.

Der Mangel an außenpolitischer Strategie und Taktik hängt wesentlich zusammen mit dem Nicht-Verhältnis zur Geopolitik, die nach wie vor als NS-kontaminiert identifiziert wird. Nun hatte die Bundesrepublik bis 1989 auch gar keine Möglichkeit, in der Praxis geopolitische Handlungsmuster zu entwickeln. Die zwei deutschen Staaten bildeten das jeweilige Glacis der verfeindeten Blöcke beziehungsweise des Rim- und des Herzlandes. Im Schatten der atomaren Vernichtungsdrohung blieb die Bundesrepublik mehr oder weniger auf das Management der deutschen Teilung und auf Versuche beschränkt, die Ost-West-Spannungen zu vermindern. Als in den achtziger Jahren einzelne Stimmen – bezeichnenderweise die von Historikern – in der Voraussicht, daß der Eiserne Vorhang nicht ewig bestehen bleiben würde, eine Debatte über die deutsche Mittellage und die „Rekonstruktion der zerstörten europäischen Mitte“ (Andreas Hillgruber) anregten, warnte Jürgen Habermas, der unzuständige Allzuständige, eindringlich vor dem „geopolitischen Tamtam“ von „Revisionisten“.






Thorsten Hinz, Jahrgang 1962, studierte in Leipzig Germanistik, war JF-Kulturredakteur und ist heute freier Publizist und Buchautor. 2004 erhielt er den Gerhard-Löwen­thal-Preis für Journalisten. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die DDR-Bürgerrechtler als die letzten Romantiker der Bundesrepublik („Am Ziel ihrer Wünsche“, JF 46/19).

Foto: Blick in die Röhre von Nord Stream: Bedeutet das russisch-deutsche Gaspipeline-Projekt Licht am Ende des Tunnels der US-Dominanz in Europa?