© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/20 / 11. September 2020

Souverän mit Schönheitsfehlern
Abstimmung mit den Siegermächten am Vorabend der Wiedervereinigung: Vor 30 Jahren wurde in Moskau das Zwei-plus-Vier-Abkommen unterzeichnet
Bruno Bandulet

Am 12. September 1990 trafen sich die Außenminister der vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges und die der zwei deutschen Staaten in einem kargen Nebenraum des Moskauer Hotels „Oktober“, um einen Schlußstrich unter die Nachkriegszeit zu ziehen und den Weg für die Wiedervereinigung Deutschlands freizumachen. Um 12.45 Uhr unterzeichneten sie den Zwei-plus-Vier-Vertrag: James Baker für die USA, Eduard Schewardnadse für die Sowjetunion, Douglas Hurd für das Vereinigte Königreich, Roland Dumas für Frankreich, Hans-Dietrich Genscher für die Bundesrepublik und Lothar de Maizière für die DDR. Am 3. Oktober war Deutschland 45 Jahre nach dem verlorenen Krieg wieder vereint. Am 15. März 1991 konnte der Vertrag in Kraft treten, nachdem ihn endlich auch der Oberste Sowjet ratifiziert hatte. 

Es gibt ein „versteinertes Besatzungsrecht“

Haben sich die mit dem Abkommen verbundenen Hoffnungen und Befürchtungen erfüllt? Am 1. Oktober 1990, am Vorabend der Einheit, leistete sich Der Spiegel eine ziemlich irre Titelgeschichte mit einem auf der Weltkugel thronenden Adler und der Zeile „Weltmacht Deutschland“? Das Magazin fabulierte: „Frankfurt könnte bald das New York Europas werden und Deutschland zur Finanzmacht von Weltrang aufsteigen.“ Dreißig Jahre später sind die Großmachtphantasien längst zerplatzt. „Berlin ist noch nicht volljährig“, befand auch Michael Stürmer in der Welt vom 4. August 2020. 

Der Vertrag, den die sechs Außenminister an jenem 12. September unter Dach und Fach brachten, war durchaus eine diplomatische Meisterleistung – allein gemessen an dem Tempo, mit dem er ausgehandelt wurde. Noch im Januar 1990 schien der Weg versperrt: in Moskau äußerte Michael Gorbatschow intern, daß die deutsche Vereinigung zwar unabwendbar sei, daß die Bundesrepublik aber aus der Nato austreten müsse – eine sowjetische Vorbedingung seit den fünfziger Jahren, die für die USA immer noch unannehmbar war. 

Der entscheidende Durchbruch kam im Mai 1990, als Gorbatschow in Wa-shington überraschend die amerikanische Forderung nach einer Nato-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands akzeptierte. Als Helmut Kohl im Juli mit Gorbatschow in dessen Jagdhütte im Kaukasus – beide in Strickjacken – konferierte, ging es im Wesentlichen nur noch darum, mit welchen Summen Bonn die Rote Armee aus Deutschland herauskaufen würde. Nach offiziellen Angaben waren es 12,5 Milliarden Mark. 

In der englischen Fassung hieß der Vertrag „Treaty on the Final Settlement with Respect to Germany“. Damit überantwortete diese „abschließende Regelung“, gedacht als Ersatz für einen formellen Friedensvertrag, die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz von 1945 dem Papierkorb der Weltgeschichte. Die Viermächterechte in bezug auf Deutschland wurden beendet.

Ansonsten zeigt sich der Vertrag als eine Mischung aus Unvermeidbarem, Selbstverständlichem und deutschen Zugeständnissen, die einen Aufstieg des Landes zur europäischen Hegemonialmacht zuverlässig blockieren sollten. Artikel 1 legte die deutschen Außengrenzen als „endgültig“ fest, womit der Verzicht auf die Ostgebiete gemeint war. In Artikel 2 bekräftigten beide deutsche Regierungen, „daß von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird“ und daß es verfassungswidrig und strafbar ist, „die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten“. Artikel 3 bekräftigte den schon im Atomwaffensperrvertrag vom 1. Juli 1968 ausgesprochenen Verzicht auf Herstellung und Besitz von und Verfügungsgewalt über Atomwaffen (sowie biologische und chemische Waffen). 

Außerdem waren die deutschen Streitkräfte innerhalb von drei bis vier Jahren auf 370.000 Mann zu reduzieren. Artikel 4 betraf den Abzug der Roten Armee bis Ende 1994. Entscheidend aus amerikanischer Sicht Artikel 6: „Das Recht des vereinten Deutschland, Bündnisse mit allen sich daraus ergebenden Rechten und Pflichten anzugehören, wird von diesem Vertrag nicht berührt.“ Damit durfte Deutschland in der Nato bleiben. Verankert wurde de jure eine Wahlfreiheit, die bis 1990 de facto nicht gegeben war. 

Der Zwei-plus-Vier-Vertrag war freilich nur das Kernstück eines größeren Arrangements. Einerseits wurde er flankiert von einem Vertrag, der die Modalitäten des sowjetischen Abzugs aus Deutschland regelte, sowie von einem deutsch-sowjetischen Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit, dessen Intentionen im später heraufziehenden neuen Kalten Krieg zwischen Washington und Moskau steckenblieben. Andererseits sicherten sich die Westmächte und insbesondere die USA Rechte, die bis in die Zeit der Besatzung zurückreichen. Juristen sprechen in diesem Zusammenhang von „versteinertem Besatzungsrecht“. In einem 2017 erschienenen Buch kam der frühere österreichische Geheimdienstchef Gert R. Polli gar zu dem Schluß, Deutschland sei „bis heute ein besetztes Land“.

Die Verträge als solche lassen eine so harte Interpretation nicht zu. Immerhin wurde in einer Vereinbarung vom 25. September 1990 das Aufenthaltsrecht US-amerikanischer und anderer westlicher Truppen auf deutschem Boden bestätigt und zugleich auf das Gebiet der alten Bundesrepublik beschränkt. Neu ist seitdem allerdings, daß Deutschland die Aufenthaltsverträge mit einer Frist von zwei Jahren kündigen kann – eine unabdingbare Konsequenz der 1990 wiedergewonnenen Souveränität. 

Den Hebel, den die USA 1990 ansetzten, bot der Überleitungsvertrag aus dem Jahr 1952, den Bonn zusammen mit dem Deutschlandvertrag mit den drei Westmächten abgeschlossen hatte. Dieser wurde am 23. Oktober 1954 in einer neuen Fassung in Paris unterzeichnet, galt bis 1990, wurde dann aber nur in großen Teilen gestrichen. Der amtliche Titel lautet: „Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen“. Offiziell wurde dieser Vertrag in einem Notenwechsel zwischen den drei Westmächten und der Bundesrepublik vom 27./28. September 1990 suspendiert. Tatsächlich aber blieb eine Reihe wichtiger Bestimmungen in Kraft. 

Konkret wurde den Organen der Bundesrepublik und der Länder zwar gestattet, von den Besatzungsbehörden erlassene Rechtsvorschriften aufzuheben oder zu ändern, allerdings „mit Ausnahme gerichtlicher Entscheidungen“. Urteile in Strafsachen, die von einem Gericht der drei Mächte gefällt wurden „oder später gefällt werden“, bleiben „in jeder Hinsicht nach deutschem Recht rechtskräftig und rechtswirksam“. Auch gegen die Maßnahmen, „die gegen das deutsche Auslands- und sonstige Vermögen durchgeführt worden sind oder werden sollen“ (!), darf die Bundesrepublik auch in Zukunft keine Einwendungen erheben. 

Letzteres betrifft nicht nur die regulären Reparationen nach 1945, sondern auch die Plünderung von privaten Vermögen. Taucht zum Beispiel früher geraubtes deutsches Eigentum auf dem Gebiet der Bundesrepublik auf, darf darauf kein Anspruch erhoben werden. Der Klageweg bleibt untersagt. Auch Kriegsverbrechen, die von den Alliierten auf deutschem Boden begangen wurden, dürfen weiterhin nicht verfolgt werden. Beispiel: Am 28. April 1945 zum Beispiel erschossen amerikanische Soldaten im bayerischen Eberstetten 15 junge, unbewaffnete SS-Leute, die sich bereits ergeben hatten, „von hinten, ohne daß die Deutschen Gegenwehr geleistet hätten“ (Pfaffenhofener Kurier vom 28. April 2020).

Nato und EU: Freiwillige Souveränitätsverluste

Ein anderer Komplex, der die deutsche Souveränität faktisch tangiert, betrifft das „jus in praesentia“ der in Deutschland stationierten westlichen Truppen. Es regelt deren Rechte während der Stationierung. Dazu wurde erst am 18. März 1993 das alte Zusatzabkommen zum Nato-Truppenstatut geändert, und es dauerte bis zum 29. März 1998, bis es in Kraft trat. Das Abkommen brachte wesentliche Verbesserungen, aber keine vollständige Gleichstellung Deutschlands und der Bundeswehr innerhalb der Nato. Eine umfassende Beurteilung ist schwierig, weil zusätzlich auch noch bilaterale Übereinkommen über die Stationierung geschlossen wurden, die der Geheimhaltung unterliegen. 

Ungeachtet aller Mängel und Schönheitsfehler, die vor allem aus dem Notenwechsel vom 27./28. September 1990 und aus den fortgeltenden Teilen des Überleitungsvertrages herrühren, bleibt festzuhalten, daß Deutschland vor 30 Jahren die völkerrechtliche Souveränität wiedererlangt hat. Daß Bindungen eingegangen wurden, die nicht ganz freiwillig waren, weil sonst die Wiedervereinigung gefährdet gewesen wäre, steht dem nicht entgegen. Die materielle, politische Souveränität ist dennoch erheblich eingeschränkt – durch die Mitgliedschaft in der EU und durch das Militärbündnis mit den USA. Mit dem Euro hat Deutschland seine monetäre Souveränität sogar vollständig eingebüßt. Souveränität muß eben auch gelebt und geschätzt werden. Dem durchschnittlichen deutschen Bürger ist sie fremd geworden, und die Eliten haben sich in der Rolle des stets zahlungsbereiten europäischen Musterschülers bequem eingerichtet.

Störend ist im übrigen, daß es nicht gelang, die Feindstaatenklauseln der Uno-Charta zu streichen. Artikel 53 und 107 räumen den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges Sonderrechte ein und ermöglichen Präventivmaßnahmen gegen die Wiederaufnahme der „Angriffspolitik“ (ein dehnbarer Begriff) durch die Feindstaaten auch ohne die Ermächtigung des UN-Sicherheitsrates. Die Bundesregierung stellt sich seit langem auf den Standpunkt, die Feindstaatenklauseln seien obsolet. Das sind sie tatsächlich. Aber warum werden sie dann nicht gestrichen? Eben das wurde 2005 vom Generalsekretär der Uno und von der 60. UN-Generalversammlung empfohlen

Geschehen ist bis heute nichts. Warum, bleibt im Dunkeln. Wenn die Feindstaatenklauseln schon keinen rechtlichen Wert mehr haben, dann vielleicht doch einen politischen. „Die aus den Feindstaatenklauseln resultierende größere Verwundbarkeit der Bundesrepublik“, vermutete der Würzburger Völkerrechtler Dieter Blumenwitz schon lange vor der Wiedervereinigung, „zwingt sie zu engerer Anlehnung an die westliche Führungsmacht, als dies sonst bei einem Staat vom wirtschaftlichen Potential der Bundesrepublik notwendig wäre“. 

Deutsche Souveränität soll in Europa aufgehen

Ende der fünfziger Jahre, schrieb einmal der Historiker Hans-Peter Schwarz, sei die Bundesrepublik auf bestem Weg gewesen, eine selbstbewußte westeuropäische Großmacht zu werden. Stück für Stück eroberte die Bundesregierung, vorbehaltlos unterstützt durch die Öffentlichkeit, Souveränitätsrechte und Handlungsspielraum zurück. Eine Agenda, die 1990 offenbar zu den Akten gelegt werden konnte. Aber schon seit der Konferenz von Maastricht im Dezember 1991 läuft der Film rückwärts, nicht nur wegen der Machtverschiebung zugunsten Brüssels und einer südeuropäisch dominierten Einheitswährung. Als die Bundesrepublik 1970 das Erdgas-Röhren-Geschäft mit der Sowjetunion einfädelte, kam auch Kritik aus Washington, mehr nicht. Heute glauben die USA, Nordstream 2 mit exterritorialen, völkerrechtswidrigen Sanktionen gegen einen Verbündeten verhindern zu können. 

Die Schwäche Deutschlands bedingt die Schwäche Europas. Sie ist mehr als alles andere selbstverschuldet. Sie rührt aus einer postnationalen Psychose, für die die seltsame, der „Bevölkerung“ gewidmete Installation im Bundestag ebenso steht wie die Masseneinwanderung seit 2015. Der mentale Kollaps läßt sich paradoxerweise zurückverfolgen bis in das Jahr der Wiedervereinigung. Am 18. Mai 1990 erschien in der Hamburger Zeit ein Beitrag mit dem Titel „Deutschland muß sich selbst entmachten“, verfaßt von Hans Arnold, der als Inspekteur des Auswärtigen Dienstes für die Ausbildung deutscher Diplomaten verantwortlich war. Arnold kündigte an: „Das künftige Deutschland wird als ‘europäisches Deutschland’ in Europa wirtschaftlich integriert, politisch domestiziert und militärisch entmachtet sein müssen.“

Arnold fügte hinzu: „Die Initiative für eine solche dreifache Einordnung Deutschlands in das künftige Europa sollte von Deutschland selbst ausgehen.“ So kam es. Die Chancen, die der Zwei-plus-Vier-Vertrag bei allen Mängeln bot, wurden verspielt.