© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/20 / 11. September 2020

Kein Recht auf Heimat
Lettische Landreform beendet die deutsche Adelsherrschaft an der Ostsee: Die wirtschaftlichen Nöte führten nach 1920 zum ersten Exodus der Deutschbalten
Paul Leonhard

Nach dem Zusammenbruch des russischen Zarenreiches gärt es 1917/18 in den Ostseeprovinzen  Kurland, Livland, Estland und Lettgallen. Die Menschen hier formen neue Staaten. Die einen wollen die Fremdherrschaft durch Russen, Dänen, Schweden, auch durch den seit 700 Jahren ansässigen deutschstämmigen Adel, der sich als „Träger der ältesten Kultur im Lande“ fühlt, abschütteln, die anderen liebäugeln mit der klassenlosen Gesellschaft der Bolschewiki. Die Deutschbalten gründen das Vereinigte Baltische Herzogtum, was die Territorien des heutigen Estlands und Lettlands umfaßt, und wollen, daß Berlin das ehemalige Gebiet des Deutschen Ordens an Deutschland angliedert. Letztlich setzen sich aber mit Unterstützung der Alliierten die Letten durch, die am 18. November 1918 einen eigenen Staat ausrufen, zu dessen Grundkonsens eine umfassende Landreform gehört.

Diese soll bei der Bildung einer lettischen Nation helfen, denn die bürgerliche Regierung in Riga, an der auch die Deutschbalten beteiligt sind, wird sowohl von deutschen Freikorps als auch von den russischen Bolschewisten bedrängt. Daraufhin verspricht die lettische Regierung am 29. Dezember 1918 allen reichsdeutschen Soldaten, die helfen, ihre Unabhängigkeit gegen die Sowjetrussen zu verteidigen, Bürgerrechte und Land zum Siedeln.

Die lettische Agrarreform, ab 1920 in Gesetze gegossen, gilt aus heutiger Sicht als die radikalste, die nach dem Ersten Weltkrieg in den osteuropäischen Ländern, abgesehen von der Sowjetunion, durchgeführt wurde. Mit einem Schlag verlor der deutschbaltische Großgrundbesiz seine ökonomische Basis. 

Maximal 50 Hektar rund um die Zentren ihrer Gutshöfe dürfen die das Land prägenden Deutschbalten behalten, sofern sie nicht nachweislich gegen die neue Regierung gekämpft haben. Auf die Fläche gerechnet sind es 1,7 Prozent des ursprünglichen Besitzes, alles andere wird entschädigungslos vom Staat eingezogen und zum Teil an landlose Bauern oder ehemalige Soldaten verteilt. Entgegen der Regierungszusage werden die deutschen Freiwilligen der Landwehr von der Landzuteilung ausgeschlossen, die bis dahin geglaubt haben, sich das Land durch den blutigen Kampf 1919 verdient zu haben. Ein Punkt, der noch bis zum Ende der 1920er Jahre von den deutschen Abgeordneten im lettischen Parlament heftig kritisiert wird. Deutschbalten hätten Riga und Lettland vor dem Bolschewismus bewahrt und durch „diese militärische Leistung und das vergossene Blut das Recht auf Heimat neu erworben“, erinnert der Abgeordnete Wilhelm Baron von Fircks von der Deutsch-baltischen Volkspartei. Zumindest die Landwehrangehörigen hätten das Land verdient, als materielle und vor allem moralische Rehabilitierung und Wiedergutmachtung.

Entschädigungslose Enteignung der Adelsgüter

Die Basis für die umfassende Agrarreform haben die Wahlen zur Lettischen Nationalversammlung am 17./18. April 1920 geschaffen. Diesen ist am 5. April die letzte Plenarversammlung der livländischen Ritterschaft vorausgegangen, dessen letztwillige Verfügungen von der neuen Regierung aber ignoriert werden.

Ende Juni verabschiedet das lettische Parlament ein Gesetz über die Auflösung der Ritterschaften von Livland, Kurland und Pilten. Seine letzte Plenarversammlung hält der livländische Adelskonvent ab 1. Juli ab. Am 16. September wird dann ein Gesetz über die Errichtung eines staatlichen Bodenfonds angenommen, drei Monate später folgt eines über den Gebrauch des Bodenfonds und schließlich im Mai 1922 eines über die Stärkung der Agrarreform und am 23. April 1923 über die „privaten Eigentumsrechte“ des zugeteilten Landes. Sind 1897 61,2 Prozent der ländlichen Bevölkerung landlos gewesen, so sind es 1936 nur noch 18 Prozent. 

1937 gilt die Landreform als abgeschlossen, da haben die meisten Deutschbalten auch die ihnen verbliebenen Güter längst verkauft und hatten ihre Heimat verlassen. Eine Rolle dürfte dabei gespielt haben, daß die lettische Regierung 1929 in einem Vertrag mit Polen den enteigneten polnischen Adligen in Lettgallen fünf Millionen Lat Schadensersatz zahlt, den Deutschbalten eine ähnliche Entschädigung aber verweigert. 

1940 folgen die noch im Baltikum lebenden verbliebenen rund 51.000 Deutschen im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes. Hitler hat ihnen im Verweigerungsfall den Entzug der deutschen Volkszugehörigkeit angedroht. Nur wenige nutzen 1990 das Angebot, zurückzukehren.

Mit der entschädigungslosen Enteignung der Adelsgüter sichert sich die bürgerliche Regierung in dem von starken ethnischen Minderheiten geprägten Land die Loyalität der neu entstandenen Schicht der Kleinbauern. Von diesen gibt es plötzlich nach unterschiedlichen Angaben zwischen 54.000 und 100.000, die durchschnittlich 17,1 Hektar bewirtschaften. Nach dänischem Vorbild wird die Landwirtschaft von Pflanzen- auf Tierproduktion umgestellt, was zur Folge hat, daß Lettland Butter, Speck und Eier exportiert und 1938 als Milch- und Fleischexporteur an vierter Stelle hinter Dänemark, den Niederlanden und Schweden steht.