© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/20 / 11. September 2020

Einen Milliarden-Stich landen
Ein funktionierender Corona-Impfstoff muß noch einige Hürden überwinden / Nebenwirkungen sind nicht auszuschließen
Jörg Schierholz

Die meisten Infektionsschutzmaßnahmen und Wirtschaftseinschränkungen wären überflüssig, wenn es endlich einen funktionierenden Corona-Impfstoff gäbe. Er könnte Leben und Gesundheit retten – und den Erfindern riesige Gewinne bescheren. US-Präsident Donald Trump hofft auf einen Erfolg vor dem Wahltag am 3. November – und die USA haben sich schon 800 Millionen Impfdosen bei den führenden Pharmakonzernen gesichert, gefolgt von Japan mit 500 Millionen und der EU mit 400 Millionen Dosen. Die Börsenwerte von Impfstoff produzierenden Unternehmen wie Moderna, BioNTech oder Inovio haben sich vervielfacht, Novavax hatte zwischenzeitlich um 3.600 Prozent zugelegt.

Die molekulare Entwicklung der Impfstoffe dauerte nur wenige Wochen, da die genetische Sequenz und Proteinstruktur von Sars-CoV-2 bekannt sind. Die folgenden drei klinischen Testphasen dauern in der Regel bis zu zehn Jahre, um möglichst alle Risiken und Langzeitwirkungen zu erkennen. Die Impfstoff-Entwickler testen nun an jeweils 10.000 bis 30.000 Probanden – und nutzen dabei die Möglichkeit eines verkürzten Notfallzulassungsverfahrens.

„Operation Warp Speed“ der Trump-Regierung

Dazu kommen milliardenschwere Unterstützungen, etwa durch die 2017 gegründete Koalition für Innovationen in der Epidemievorbeugung (kurz Cepi; gefördert von der Gates-Stiftung, Deutschland, der EU, Großbritannien und weiteren) oder die Genfer Globale Allianz für Impfstoffe und Immunisierung (kurz Gavi). Hinzu kommt die im April gestartete milliardenschwere „Operation Warp Speed“ der US-Regierung, die angeblich mit dem Manhattan-Projekt zum Bau der ersten Kernwaffen vergleichbar sei. Ein Hauptprofiteur dieser Trump-Initiative ist der britisch-schwedische Pharmakonzern AstraZeneca mit seinem Impfstoff AZD1222.

Von sieben Coronaviren ist es bekannt, daß sie den Menschen infizieren. Die gefährlichen Vertreter Sars-CoV-1 (Ausbruch in China 2002) und Mers-CoV (Saudi-Arabien 2012) gaben einen Vorgeschmack auf die derzeitige Covid-19-Pandemie, die von Sars-CoV-2 ausgelöst wird. Das jüngste Virus wird hauptsächlich über virustragende Atemtröpfchen auf die Schleimhäute von Mund, Nase und die oberen Atemwege übertragen. Dort kann es mittels spezieller Spike-Proteine an den ACE2-Rezeptoren der Schleimhäute haften und darüber in die menschlichen Zellen eindringen – und hier setzen die Impfstoff­entwickler an: Das Virus injiziert seine Erbinformation in die Wirtszellen und diese beginnen das fremde Virusprotein zu reproduzieren. In der Folge kann es in tiefere Bereiche der Lunge abwandern.

Sars-CoV-2 befällt die Pneumozyten in den Lungenbläschen, es kann aber auch Zellen des Magen-Darm-Traktes, der Blutgefäße und Nerven für seine Zwecke übernehmen. Bei symptomatisch Erkrankten steigen die Entzündungsaktivität im Körper und die Gerinnungsprozesse in den Blutbahnen stark an, weshalb inzwischen Kortison und Gerinnungshemmer bei Schwererkrankten eingesetzt werden. Diese therapeutischen Möglichkeiten können zusammen mit der antiviralen Substanz Remdesivir einer der Gründe sein, warum die Covid-19-Sterblichkeit abnimmt.

Es gibt keine zugelassene Impfung gegen Covid-19, aber gegen Tuberkulose zugelassene Impfungen werden als unspezifischer Immunschutz gegen Covid-19 klinisch getestet. Daß von Trump in die mediale Diskussion gebrachte Remdesivir von Gilead ist seit Juni auch bei schwererkrankten Covid-19-Patienten in der EU zugelassen. Es wird momentan auch bei moderat erkrankten Patienten klinisch geprüft. Hoffnungsvolle Antikörperentwicklungen kommen von den US-Firmen Regeneron, Eli Lilly und Vir Biotechnology. Das schweizer Mittel Tocilizumab (Roche), ein Rheuma-Medikament, fiel dagegen bei klinischen Studien durch.

Das Sars-CoV-2-Erbgut ähnelt zu 80 Prozent Sars-CoV-1, zu 50 Prozent Mers-CoV und zu 96 Prozent Fledermaus-Viren, von denen es wahrscheinlich abstammt. Die Genomsequenz ändert sich nur langsam, wodurch die gängigen PCR-Tests vorerst nicht schnell veralten, wie bei vielen Grippeviren. Laufende Impfstoffentwicklungen sind also nicht gefährdet. Entscheidend für die Impfstoffe sind drei Faktoren: eine robuste Immunantwort mit langanhaltend zirkulierenden Antikörpern; die Aktivierung des Immunsystems mit den B- und T-Zellen sowie die Neutralisierung des Virus beim Eindringen in die Wirtszelle.

Offen ist nicht nur die Frage, wie lange ein solcher Schutz anhält, sondern ob die bisher gemessenen Immunreaktionen überhaupt ausreichen, um Infektionen abzuwehren. Der ideale Impfkandidat darf aber das Immunsystem nicht zu stark aktivieren, um eine Überreaktion – einen lebensbedrohlichen Zytokinsturm – nicht auszulösen. Die US-Zulassungsbehörde FDA hat mit 50 Prozent Verringerung der Covid-19-Infektionsrate eine vergleichsweise niedrige Hürde gesetzt. Ein vielleicht schon im Herbst zugelassener Impfstoff wird die Aktienkurse der daran beteiligten Firmen weiter nach oben katapultieren, aber auch ebenso brutal eindampfen, falls ein zweiter, besserer Kandidat danach die FDA-Hürden überwindet.

Mehrere Verfahren mit unterschiedlichen Risiken

Es gab Gerüchte, AstraZeneca würde nach einer Auswertung von 10.000 Probanden schon im September eine Zulassung erhalten, doch die FDA verlangt mindestens 30.000 Probanden. Auch die Chinesen und der russische Sputnik-V-Impfstoff sind weiter im Rennen (JF 36/20). Erste Freiwillige sind laut Alexander Ginzburg, Direktor des Moskauer Gamaleja-Instituts, schon vorige Woche mit der als „Gam-Covid“ bezeichneten Eigenentwicklung geimpft worden – ein in der EU undenkbares Schnellverfahren. Allerdings verzeichnet Rußland pro Einwohner schon über doppelt so viele Infektionen wie Deutschland.

Mehrere technische Verfahren stehen dabei im Wettbewerb: ein gezielt abgeschwächter Virus, welcher sich noch in geringem Ausmaß vermehren kann; das komplett inaktivierte Virus; ein das Immunsystem aktivierender Virus-Bestandteil in Kombination mit einem Impfstoffverstärker oder die Produktion dieser viralen Zellbestandteile im Körper mittels kodierender RNA, DNA bzw. durch Überträger wie Schnupfenviren. Letzteres ist eine sehr gängige Art, Impfstoffe zu entwickeln – Sputnik V, AstraZeneca und das chinesische Cansinobio setzen darauf. Die New Yorker Codagenix verwendet abgeschwächte Sars-CoV-2-Vakzine. Komplett inaktivierte Viren sind zwar sicherer, aber sie haben eine geringere Fähigkeit, das Immunsystem ausreichend anzufachen. Man braucht mehrere Impfungen und für den Transport eine Kühlkette.

Die DNA- oder RNA-Impfung ist eine innovative Alternative – mit Vorteilen bei Sicherheit, Entwicklungsgeschwindigkeit, Stabilität und Skalierbarkeit bei der Massenproduktion. Es gibt aber diverse Risiken und bislang kein zugelassenes Produkt auf dem Markt. Bei den DNA-Vakzinen sind Inovio und Entos führend. Die US-Firma Moderna verkündete die erste klinische RNA-Testung, gefolgt von der deutsch-amerikanischen BioNTech-Pfizer-Allianz.

Obgleich DNA-Vakzine eine höhere Stabilität als ihre RNA-Varianten aufweisen, gibt es ein potentielles Krebsrisiko, da Virus-DNA das menschliche Erbgut ändern kann. Führend bei der Entwicklung von immun-aktivierenden Impfbestandteilen sind Novavax, Sanofi/GSK, Vaxine, Johnson & Johnson und die Universität Pittsburgh. Medicago und iBio nutzen hierbei zudem neue Fermentationstechnologien und AdaptVac/ExpreS2ion ein innovatives Insekten-Zell-Expressionssystem.

Die Kosten, die Massenproduktion und die weltweite Anwendung sind weitere Hürden für eine effektive Covid-19-Impfung. Die WHO berichtete kürzlich, daß 2,8 Millionen Impfungen in fünf Ländern wegen fehlender Kühlketten verlorengingen, und lediglich zehn Prozent der Entwicklungsländer folgten den Regeln für ein professionelles Impfmanagement. Einen Königsweg gibt es nicht. Nicht jeder Impfstoff ist gleich wirksam, manche schützen nur kurze Zeit, andere haben starke Nebenwirkungen. Doch die Milliarden-Programme und die weltweite Kooperation nähren die Hoffnung, daß es trotz aller Probleme bald einen Schutz geben wird.

 www.defense.gov

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