© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/20 / 11. September 2020

Der Flaneur
Morgens am See
Paul Leonhard

Morgens um sechs Uhr scheint die Kiesgrube noch zu schlafen. Es ist angenehm kühl. Kein Wellenschlag auf dem Wasser. Kein Kindergeschrei. Kein morgenländliches Gedudel, keine arabischen Laute, kein russisches Gegröle. Eine Schwanenfamilie zieht ihre Bahnen. Zwei schöne weiße Tiere und dazu sechs fast genauso große graue.

Ein Fahrrad steht einsam am Trampelpfad. Ich entdecke einen Mann dicht an einem Brombeergestrüpp, der die überreifen schwarzen Früchte pflückt und in eine Dose tut. Ich habe auch schon genascht und fand die Beeren viel saurer als gestern abend. Ob das mit der Sonne zusammenhängt, daß sie abends einfach süßer schmecken?

Am gegenüberliegenden Ufer entdecke ich einen schwarzen Punkt. Ein Hund, der im Wasser schwimmt. Er gehört zu einer jungen Frau im Sommerkleid. Hinter dem Brombeergestrüpp platscht es pötzlich, dann prustet es. Ein älterer Mann ist ins Wasser gehechtet.Sein Hund folgt ihm.

Ein dünner Mann sammelt zurückgelassenen Unrat auf und wirft alles in einen blauen Sack.

„Nee, mit uns wird das nichts mehr“, höre ich ein Stück weiter. „Du sagst einfach nichts, den ganzen Abend hast du geschwiegen“, schimpft eine hübsche Mittdreißiger einen durchtrainierten Mann aus, der neben ihr in Badehose steht und sich mit einem Handtuch abtrocknet. Der Mann brummelt etwas, aber es geht im Monolog der Frau unter.

Wo gestern abend die Migrantenfamilien saßen, stehen am Morgen mit Abfall gefüllte Discountertüten. Über einige haben sich die Raben hergemacht und den Inhalt verteilt. Ein Stück weiter hüpft ein halbes Dutzend der großen Vögel eilig vom Ufer weg, denn ein Kopf schwimmt auf sie zu. Er gehört zu einem Mann, der jetzt an Land klettert.

Am flachen Ufer sitzen zwei Angler. Sie unterhalten sich leise auf russisch. Ausweislich der dicken Jacken und der hinter ihnen aufgereihten Batterie leerer Bierflaschen haben sie vermutlich die Nacht am Wasser verbracht.

Ein dünner Mann sammelt zurückgelassenen Unrat auf und wirft alles in einen blauen Sack. „Müßte man belobigen“, höre ich, als ich an einer Gruppe Hundebesitzer vorbeigehe.