© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/20 / 18. September 2020

„Die Frauen werden im Stich gelassen“
Kommt nun, ein Vierteljahrhundert nach ihrer Neuregelung, die Legalisierung der Abtreibung? Die Journalistin Alexandra Maria Linder, Vorsitzende des Bundesverbands Lebensrecht, der am Samstag in Berlin dagegen auf die Straße geht, warnt vor den Folgen
Moritz Schwarz

Frau Linder, fällt – als Spätfolge des politischen Kompromisses zur Abtreibungsregelung vor 25 Jahren – jetzt das Verbot des Schwangerschaftsabbruchs in Deutschland?

Alexandra Maria Linder: Das muß nicht so kommen. Obwohl es im Bundestag vielleicht eine Mehrheit dafür gäbe – vor allem durch Abgeordnete von Linken, Grünen, SPD und FDP. Jedoch hält man sich noch zurück, einen solchen Vorstoß zu unternehmen.

Warum? 

Linder: Aus Sorge, er könne vielleicht doch scheitern. Lieber wartet man die Bundestagswahl 2021 ab, die vielleicht eine klare Mehrheit bringt. Dann allerdings würde vermutlich zum Halali geblasen. 

25 Jahre lang hat der Kompromiß gehalten. Warum ist die Debatte erneut entbrannt?

Linder: Daß das Thema wieder so präsent ist, ist gut! Anlaß war die Verurteilung der Gießener Abtreibungsexpertin Kristina Hänel 2019 wegen Verstoßes gegen das Werbeverbot für Abtreibungen. Sie hatte mit dem Argument, sie wolle „informieren“, für Abtreibung geworben.  

Als Reaktion darauf hat der Bundestag den betreffenden Paragraph 219a Strafgesetzbuch „reformiert“. Dem Sieg vor Gericht folgte also eine politische Niederlage? 

Linder: Nein, im Gegenteil: Ziel der Initiatoren war, das Werbeverbot abzuschaffen – das konnten wir verhindern!

Jedoch um den Preis der Reform des 219a, die zwar unbedeutend ist – aber eine erste Durchlöcherung des Status quo darstellt! 

Linder: Stimmt, und Schaden für betroffene Frauen anrichtet – dennoch aber so beschaffen ist, daß das Werbeverbot vorerst gesichert bleibt.

Was sich aber nach der Bundestagswahl ändern könnte, wie Sie selbst sagen.

Linder: Ja. Ich hoffe aber, daß eine rechnerische Mehrheit im Bundestag gegen die Paragraphen 218 und 219 nicht zu einer tatsächlichen wird. Denn viele Abgeordnete sehen heute die Folgen, die Abtreibung in anderen Ländern hat.

Nämlich?

Linder: Die Zahl der Abtreibungen steigt. Es gibt keine Beratung und keine Hilfe für Frauen, dafür Nötigung, die Vertuschung von Mißbrauch und vieles mehr. In Belgien dürfen Minderjährige ohne Zustimmung der Eltern abtreiben. In England gibt man an staatlichen Schulen montags die „Pille danach“ an Schülerinnen aus. In Schweden gibt es „Home abortion“ mit der Abtreibungspille, angeblich ganz gemütlich auf dem Sofa.

Hat den Weg dafür, daß dies nun auch bei uns Einzug halten könnte, nicht der Abtreibungskompromiß von 1995 geebnet?

Linder: Dessen verschwurbelte Formel – Abtreibung ist verboten, in den ersten drei Monaten aber straffrei – widerspricht vernünftigem Denken, wonach, was straffrei ist, faktisch erlaubt ist. Natürlich wird Abtreibung bis zur zwölften Woche infolgedessen gesellschaftlich als legal betrachtet. Vor allem von der jungen Generation, die die Debatten vor 1995 nicht miterlebt hat. Andererseits ist gerade diese Generation sehr offen für sachliche Gespräche und Argumente. Dazu kommt die Inkonsequenz: Warum eine willkürliche Grenze setzen? Denn es gibt keinen Unterschied zwischen einem Kind im dritten und im achten Schwangerschaftsmonat. Abtreibung folglich bis zur Geburt zu erlauben, fordern Abtreibungsaktivisten. Menschen folglich von der Zeugung an zu schützen, fordern wir. 

Also lautet Ihr Fazit heute, 25 Jahre später?

Linder: Wir haben vor alldem gewarnt und die Folgen vorhergesagt. Allerdings war der Kompromiß besser als eine vollkommene Legalisierung. Dank ihm ist die Lage der Frauen im Schwangerschaftskonflikt bei uns ein wenig besser als in vielen anderen Ländern.

Ebenso hat er aber zur Erosion des Wertebewußtseins geführt – war er also doch nur der Einstieg in einen Ausstieg auf Zeit?

Linder: Mitverantwortlich ist eine Ideologie, die von Abtreibungsorganisationen wie Pro Familia oder International Planned Parenthood Federation, verbreitet wird. Nämlich Abtreibung zum „Frauenrecht“ zu erklären, also die Menschenrechte einer Gruppe zugunsten des Selbstbestimmungsrechts einer anderen zu negieren. Immerhin haben wir, die Lebensrechtsbewegung, auch Erfolge gegen diese Ideologie erzielt. 

Inwiefern? Abtreibung gilt als „normal“. 

Linder: Es ist uns gelungen, der Gesellschaft im Bewußtsein zu halten, daß Embryonen und Föten vollständige Menschen sind, indem wir dies stetig thematisieren und schöne Bilder von Kindern vor der Geburt verbreiten. Eine Aktivistin von Pro Familia klagte in einem Interview, unseretwegen wisse jeder, wie ein Embryo aussieht – während sie und andere ihn mit Begriffen wie „Gebärmutterinhalt“ entmenschlichen. Und wir verzeichnen einen Gegentrend in der Bevölkerung, man hinterfragt vieles: Was passiert bei einer Abtreibung? Kann sie eine „Lösung“ sein? Was ist mit der Menschenwürde? Was macht Abtreibung mit meiner Tochter, mit mir? Die Legalisierung läßt Frauen im Stich und steigert die Abtreibungszahlen, ob in Mexiko, Somalia, Chile oder Schweden. Keine Studie weist nach, daß Abtreibung einen physischen oder psychischen Vorteil für Frauen hat, zahlreiche Studien aber belegen negative Folgen. Schäden für Frauen werden in Kauf genommen. Beispiel: der Wirkstoff Ulipristalacetat, der in der „Pille danach“, die verhütet oder abtreibt, mit dreißig Milligramm angeblich unbedenklich ist. Mit je fünf Milligramm in einem Präparat zur Behandlung von Uterusmyomen wurde er dagegen auf die Gelbe Liste gesetzt, weil er Leberschäden verursachen könnte.

Den Protest gegen all das wollen Sie nun am Samstag in Berlin auf die Straße tragen.

Linder: Wir demonstrieren für das Leben und die Zukunft, denn ohne Kinder und ohne ein Ja zum Leben hat die Menschheit keine. Um 13 Uhr beginnt vor dem Brandenburger Tor die Kundgebung, danach führt unser Demonstrationszug etwa drei Kilometer durch die Innenstadt. Es gibt ein paar Corona-Regeln, die wir einhalten wollen. Bisher ist der „Marsch für das Leben“ eine Erfolgsgeschichte: Von etwa 150 Teilnehmern beim ersten Mal ist er auf achttausend im letzten Jahr angewachsen. Doch entscheidend ist nicht die Zahl, sondern, daß wir die Stimme für das Leben auf die Straßen der Hauptstadt bringen. Durch einen Livestream werden auch Tausende Daheimgebliebene dabeisein können. Und nach Corona werden wir die Zehntausend-Teilnehmer-Marke knacken, denn wir sind eine stark wachsende Bewegung!  






Alexandra Maria Linder Jahrgang 1966, ist Sprecherin des Bundesverbands Lebensrecht, der Dachorganisation der deutschen Lebenssschutzvereine und Autorin des Buchs „Geschäft Abtreibung“.


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