© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/20 / 18. September 2020

„In der Praxis als falsch erwiesen’“
25 Jahre nach seinem Beschluß zeigt sich der Abtreibungskompromiß als grundgesetzwidrig, bilanziert der Jurist und Lebensschützer Rainer Beckmann
Moritz Schwarz

Herr Beckmann, ist der Abtreibungskompromiß grundgesetzwidrig? 

Rainer Beckmann: Die geltende Abtreibungsregelung ist meines Erachtens kein „Kompromiß“ – sondern eine Freigabe der Abtreibung. Denn sie bietet dem ungeborenen Kind keinen Rechtsschutz. Das Tragische ist, daß diese Regelung nicht nur 1995 eine Mehrheit im Bundestag gefunden hat, sondern daß sie ziemlich genau das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1993 umsetzt.

Das müssen Sie erklären.

Beckmann: In seinem damaligen Urteil hat das Bundesverfassungsgericht gesagt, daß Abtreibungen, bei denen nur eine Beratung stattgefunden hat, nicht als „rechtmäßig“ qualifiziert werden dürfen. Gleichzeitig hat es aber auch das vom Gesetzgeber gewollte „Beratungskonzept“ akzeptiert. Dieses beruht auf der Annahme, daß ungeborene Kinder allein durch die Beratung ihrer Mütter geschützt werden können und eine strafrechtliche Sanktion nicht nötig sei. Damit das Beratungsangebot angenommen wird, sollen „beratene Abtreibungen“ keine negativen Folgen haben. Ein derartiges Konzept führt aber in der Praxis dazu, daß „beratene Abtreibungen“ doch als „rechtmäßig“ behandelt werden. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist deshalb zutiefst widersprüchlich.

Was sind die praktischen Konsequenzen des Beratungskonzepts?

Beckmann: Die angeblich „nicht rechtmäßigen“ Abtreibungen werden auf gesetzlicher Ebene als „rechtmäßig“ behandelt. So gilt zum Beispiel der auf die Tötung des Kindes gerichtete Arztvertrag als rechtswirksam, niemand darf einen Abtreibungsarzt an seiner „Berufsausübung“ hindern. Die Voruntersuchungen und komplikationsbedingte Nachbehandlungen werden von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt. Die Arbeitgeber müssen bei abtreibungsbedingter Arbeitsunfähigkeit den Lohn weiter zahlen, und die Länder sind verpflichtet, ein ausreichendes Angebot an Abtreibungseinrichtungen sicherzustellen. Abtreibungen erscheinen damit als „normale“ ärztliche Dienstleistung. Was sich wohlklingend „Beratungskonzept“ nennt, ist aber nichts anderes als eine befristete Freigabe der Tötung ungeborener Kinder. In 96,1 Prozent aller 2019 statistisch erfaßten Fälle ist die Pflicht, eine Beratungsstelle aufzusuchen, die einzige „Hürde“ vor einer Abtreibung. Dort bekommt man eine Bescheinigung, mit der das ungeborene Kind straffrei abgetrieben werden kann.

Hat denn das Beratungskonzept wenigstens den behaupteten lebensschützenden Effekt gezeigt?

Beckmann: Was in der Beratung konkret besprochen wird, unterliegt der Verschwiegenheit und ist nicht nachprüfbar. Nach dem Gesetz muß sich die Schwangere nicht einmal auf ein ernsthaftes Beratungsgespräch einlassen. Vom Bundesverfassungsgericht wurde 1998 klargestellt, daß die Frau weder beim Arzt noch in der Sozialberatung ihre Gründe offenbaren muß. Wörtlich: „Die Schwangere soll wissen, daß sie nach Bundesrecht die Beratungsbescheinigung nach Paragraph 7 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes erhalten kann, obwohl sie die Gründe, die sie zum Schwangerschaftsabbruch bewegen, nicht genannt hat.“ In Wahrheit gibt es daher gar keine Beratungspflicht, sondern nur eine Anwesenheitspflicht in der Beratungsstelle.

Was bedeutet das nun? Ist damit die Abtreibungsregelung grundgesetzwidrig?

Beckmann: Die Annahme des Verfassungsgerichts, man könne ungeborene Kinder auch mit einer Beratungsregelung schützen, hat sich in der Praxis als falsch erwiesen. Es ist vielmehr der Eindruck entstanden, daß es ein „Recht auf Abtreibung“ gebe. Politisch wird sogar die gänzliche Abschaffung des Paragraphen 218 Strafgesetzbuch gefordert, etwa von Jusos, Linken und Grünen. Das wäre verfassungswidrig. Aber auch mit der aktuell geltenden Regelung kann das Grundrecht auf Leben nicht hinreichend geschützt werden. Es besteht daher Reformbedarf. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung von 1993 erklärt, daß der Gesetzgeber die Auswirkungen seines neuen Schutzkonzepts im Auge behalten müsse. Dieser „Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht“ ist der Gesetzgeber bislang nicht nachgekommen. 






Rainer Beckmann, ist Vizevorsitzender der Juristen-Vereinigung Lebensrecht. Der Richter, Jahrgang 1961, war Mitglied einer Enquete-Kommission des Bundestags und Referent der CDU/CSU-Fraktion. 


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