© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/20 / 18. September 2020

„Bei denen knallen jetzt die Sektkorken“
AfD: Neuer Vorstand und Kurswechsel in Niedersachsen
Christian Vollradt

Am Ende hatten ihr weder der anfängliche Zweckoptimismus noch der Amtsbonus geholfen: Im Rennen um den Vorsitz des Landesverbands Niedersachsen verließ Dana Guth am vergangenen Samstag den Tagungsort Braunschweig als Verliererin – eben jene Stadt, in der sie vor zweieinhalb Jahren noch triumphiert hatte (JF 16/18). 

Nach zwei Stichwahlen in zwei Wahlgängen stand ihr Hauptherausforderer Jens Kestner als Sieger fest. Mit 278 Stimmen setzte sich der Bundestagsabgeordnete aus Northeim gegen die Landtagsfraktionsvorsitzende (248 Stimmen) durch. Bei Kestners Unterstützern brandete der Jubel auf, in Guths Gefolgschaft herrschte blankes Entsetzen. Bereits in den sich zeitweise zäh hinziehenden Verhandlungen zuvor konnte man den Eindruck gewinnen, hier hätten sich zwei verschiedene Parteien versammelt; applaudierten die einen, schwiegen die anderen – und umgekehrt.

Bereits in den Grußworten kam die interne Spannung zum Ausdruck. Während der Bundesvorsitzende Jörg Meuthen in erster Linie betonte, die AfD müsse sich als die bürgerliche freiheitlich-konservative Alternative zu den Altparteien positionieren, betonte sein Co-Vorsitzender Tino Chrupalla, auch die „Sozial-Patrioten“ gehörten dazu und warnte vor „Ausschließeritis“ und „Anpasseritis“. Chrupalla machte keinen Hehl daraus, daß ihn das Wahlergebnis am Ende des Tages zufriedenstellte. Guth hatte ja im vergangenen Jahr erfolglos  gegen ihn als Co-Sprecherin kandidiert. Und der Bundestagsabgeordnete aus Sachsen äußerte seinen Unmut, daß der Ehrenvorsitzende der AfD, Alexander Gauland, nicht eingeladen worden sei. Spätestens als eine Mehrheit im Saal nach diesem Rüffel in Richtung Guth applaudierte, hatten sich die Mehrheitsverhältnisse angedeutet.  

Gauland einzuladen, war von Kestner in einem Schreiben an den damaligen Landesvorstand angeregt worden. Als der mit dem Hinweis, die Parteispitze sei mit beiden Bundesvorsitzenden ausreichend vertreten, streuten die Guth-Kritiker die Nachricht der faktischen Ausladung Gaulands. Und daß Meuthen, zu dessen innerparteilichen Unterstützern Guth zählt, unter Hinweis auf einen Wahlkampftermin in Nordrhein-Westfalen noch vor Ende des Chrupalla-Grußworts abreiste, machte den Graben im Bundesvorstand deutlich. 

Kestners Erfolg sei auch ein Revanche-Sieg des zuvor von der Meuthen-Mehrheit im Bundesvorstand gedemütigten „Flügels“ gewesen, diese Interpretation hörte man häufiger. „Diese Wahl haben Björn Höcke und Boris Pistorius gewonnen“, meinte ein AfD-Mitglied unmittelbar nach Kestners Triumph am Samstags abend sarkastisch. Der Thüringer Landesvorsitzende und Anführer des offiziell aufgelösten „Flügels“, weil er für den neuen niedersächsischen Spitzenmann die Werbetrommel gerührt habe; und Niedersachsens SPD-Innenminister, weil ihm die AfD mit dieser Vorstandswahl den Anlaß geliefert habe, die gesamte Landespartei vom Verfassungsschutz zu beobachten. „Bei denen knallen jetzt die Sektkorken“, stimmen Umstehende sichtlich frustriert ein.

Tatsächlich hatte Pistorius im März bekanntgegeben, das Landesamt für Verfassungsschutz habe „einen völkisch-nationalistischen Personenzusammenschluß, der dem Flügel zugerechnet wird, zum Beobachtungsobjekt bestimmt“. Die gewundene Mitteilung rührte vom Umstand her, daß es einen organisiserten „Flügel“ in Niedersachsen nicht gab. Daß Kestner und sein neuer zweiter Stellvertreter Stephan Bothe aus ihrer Nähe zu Höcke keinen Hehl machten, war dem Innenminister und seinen Beamten nicht entgangen. Wesentlich kritischer schätzen Liberal-Konservative in der AfD die Tatsache ein, daß mit Andreas Iloff ein Beisitzer der neuen Landesführung angehört, dem eine Nähe zu Rechtsextremisten vorgehalten wird.

Bleibt Guth Chefin der Fraktion?

Am Morgen hatten linke Protestierer an mehreren Stellen die Zufahrten zur Tagungshalle behindert. Teilnehmer des AfD-Parteitags berichteten davon, daß bei der Anfahrt ihre Autos von Gegendemonstranten beschädigt, Türen aufgerissen und die Fahrzeuginsassen bedroht wurden. Die Polizei war mit mit einem Großaufgebot vor Ort. Gegen eine Gruppe von Blockierern gingen Beamte mit Diensthunden, Pfefferspray und Schlagstöcke vor. Auch eine Reiterstaffel war im Einsatz, zeitweise kreiste ein Polizeihubschrauber über dem Gelände.

Mit Spannung blicken Beobachter nun auf den kommenden Dienstag. Dann dürfte sich in einer Sitzung der Landtagsfraktion klären, ob Guth, wie sie es möchte, weiter Fraktionschefin bleiben kann. Bereits seit einiger Zeit kursieren Gerüchte, es werde am Stuhl der Vorsitzenden gesägt. Die Mehrheit dafür könnte stehen, ist aus Parteikreisen zu vernehmen.

Einerseits, so mutmaßen manche Parteiinsider, wäre der Erfolg des Kestner-Lagers nur ein halber, wenn man sich mit der Eroberung des Landesvorstands zufriedengäbe und nicht auch eine Dominanz in der Fraktion anstreben würde. Andererseits scheint man ein „Exit“-Szenario zu fürchten: daß nämlich, sollten die verbliebenen Widersacher der neuen Parteispitze zu sehr gedemütigt werden, sie im äußersten Fall aus der Fraktion ausscheiden könnten – und diese dann ihren Status verlieren könnte, samt den damit verbundenen parlamentarischen Rechten und Finanzmitteln.